Salzburger Nachrichten

Ohne kritisches Denken geht es gar nicht

Rudi Dutschke führte in Deutschlan­d die Revolte von 1968 an. Was sich damit verändert hat, erklärt Autor F. C. Delius im SN-Interview.

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Als Schriftste­ller interessie­rt sich Friedrich Christian Delius vor allem dafür, wie sich seine eigene Gesellscha­ft wandelt. SN: Was ist von der Bewegung von 1968 geblieben? F. C. Delius: Vieles ist geblieben. Das meiste davon ist gut und richtig. Das Wichtigste ist die Vorstellun­g, dass man eine Gesellscha­ft überhaupt kritisiere­n darf, auch in scharfer Form. Das bedeutet, dass es verschiede­ne Meinungen in einer Gesellscha­ft geben muss. Vor allem, dass es Spaß macht, die Welt und sich selbst ein wenig zu verändern. Nach der „Ära Adenauer“hatten wir damals den Eindruck: Die Gesellscha­ft ist ganz festgefahr­en; es gibt nur eine Meinung. Der Aufbruch von ’68 richtete sich gegen diese autoritäre­n Strukturen – ein Erbe der Nazi-Zeit.

Die Bewegung von ’68 hat den Blick erweitert und die Aufmerksam­keit auf die Dritte Welt und den Vietnamkri­eg gelenkt – das war alles relativ neu damals. ’68 hat der Frauenbewe­gung sowie Minderheit­en viel gebracht. Doch die Idee, dass eine Gesellscha­ft ohne kritisches Denken und demokratis­che Aktivität nicht gedeihen kann, ist das Entscheide­nde. SN: In vielen Bilanzen hieß es, die 68er seien mit ihren politische­n Ideen gescheiter­t, sie hätten aber die Gesellscha­ft nachhaltig verändert. Stimmt das? Man kann nicht von „den 68ern“sprechen. Es war eine sehr bunte Bewegung. Sie reichte von dogmatisch­en Leuten, die in der Art einer kommunisti­schen Kaderparte­i dachten, über Hippies und Anarchos bis zu Leuten wie mir, die von der Literatur her kamen und das Ziel hatten, gute, kritische Bücher zu machen, also Aufklärung zu betreiben. Wir wollten weder mit Maoisten noch mit Moskautreu­en noch mit RAF-Leuten etwas zu tun haben. So dachten die meisten.

Von einem Scheitern von ’68 zu sprechen ist wegen der bunten Mischung gar nicht möglich. Es gibt ja keine Formel, kein gemeinsame­s Programm, das man heute durchcheck­en könnte mit Ja-Nein-Häkchen. SN: Inwiefern hat diese Bewegung Anstöße für eine Demokratis­ierung gegeben? Es war tatsächlic­h ein Ziel dieser Bewegung, die Gesellscha­ft zu demokratis­ieren. Dabei gab es viele Irrtümer. Manche meinten zum Beispiel, dass man das besser über ein Rätesystem erreichen könnte. Ein Ergebnis der Studentenb­ewegung ist aber, dass man spätestens nach den Jahren der „Rote-ArmeeFrakt­ion“(RAF), nach dem bundesdeut­schen Terrorismu­s also, erkannt hat: Das Grundgeset­z ist doch eine ganz gute Sache; auf dieser Basis sollten wir politisch arbeiten. Ein linker Verfassung­spatriotis­mus, der gerade heute im populistis­chen Geschrei äußerst hilfreich ist.

Die demokratis­chen Strukturen in der Bundesrepu­blik haben sich ja mittlerwei­le sehr entwickelt. Das Problem heute aber ist, dass wir Makrostruk­turen haben, nämlich jene von Europa und darüber jene der großen Konzerne, die mächtiger sind als die europäisch­en Institutio­nen. Lobbyisten verdrängen Demokraten. Deshalb herrscht jetzt das Gefühl, dass wir mit der herkömmlic­hen Demokratie nicht viel weiterkomm­en. Stimmt aber nicht, wenn wir die Grundrecht­e offensiver vertreten. SN: Auch der Protest gegen den Vietnamkri­eg hat die Bewegung von ’68 angetriebe­n. War sie deshalb antiamerik­anisch, wie bisweilen gesagt wurde? Nein, überhaupt nicht. Was die Amerikaner damals gemacht haben, hat unseren amerikanis­chen Idealismus verletzt. Wir dachten ja nicht anders als die Studenten in Kalifornie­n, überhaupt in den USA. Nicht nur die Studenten, sondern auch die Intellektu­ellen in Amerika waren an diesem Punkt einig. Es waren ja alle Amerikaner gegen diesen Krieg – bis auf die Militärs und eine Hälfte der Politiker.

Unser Protest hatte mit Antiamerik­anismus nichts zu tun, jedenfalls anfangs. Wir sahen nicht ein, dass die Leute, die uns von den Nazis befreit hatten und daher für uns ein positives Bild boten, solche Gräueltate­n in Vietnam verübten. Das ist ein völlig unnötiger Krieg gewesen mit bis zu drei Millionen Toten. Selbst der damalige Pentagonch­ef Robert McNamara hat später diese Sicht geteilt. SN: In den 60er-Jahren hatten Utopien Hochkonjun­ktur. Hingen auch Sie selbst solchen Vorstellun­gen an? Ich hatte keine Utopie. Schriftste­ller sind Pragmatike­r. Ich war nie in einer der politische­n Gruppierun­gen, auch nie in einer Partei. Als Verlagslek­tor und Autor war ich daran interessie­rt, möglichst lesbare, aufkläreri­sche Bücher zu machen – für Menschen, die die Gesellscha­ft verbessern wollten. Das war das Ziel; und dafür braucht man keine Utopie. SN: Wenn man auf diese Zeit vor 50 Jahren zurückscha­ut, hat man den Eindruck: Es gab damals bei vielen die zuversicht­liche Einstellun­g, dass man die Welt ganz anders gestalten, also grundlegen­d verändern könne. Wäre eine solche Haltung heute nicht neuerlich vonnöten? Wir wissen doch, dass vieles nicht so weiterlauf­en kann wie bisher, zum Beispiel in ökologisch­er Hinsicht. Genau, so ist es. Nur glaube ich, dass es diese Haltung heute schwerer hat, sich wirklich durchzuset­zen. Die Machtstruk­turen sind ganz andere geworden. Unsere Welt ist inzwischen eine des Finanzkapi­tals. Es existiert nicht mehr der brave, bürgerlich­e Kapitalism­us von früher, der Waren herstellt und verkauft – nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Das Problem ist, dass heute zu viel Geld in der Welt ist und ganz viel kaputt macht, sogar den Kapitalism­us untergräbt.

Die Fragen rund um den Euro zum Beispiel sind so komplex, dass man leicht die Zuversicht verlieren kann. Ich empfehle, unbedingt „Die ganze Geschichte“von Yanis Varoufakis, dem früheren griechisch­en Finanzmini­ster, zu lesen. Erst wenn man da durch ist, weiß man wieder, wohin man die Zuversicht lenken kann. SN: In Ihrem Buch „Adenauerpl­atz“haben Sie am Beispiel von politische­n Flüchtling­en aus Chile schon 1984 das heute heftig diskutiert­e Thema Asyl ausgeleuch­tet. Mittlerwei­le hat rund ein Fünftel der Menschen in der Bundesrepu­blik Migrations­hintergrun­d. Ist das nicht ein massiver Wandel? Das ist eine große Veränderun­g, die wir in Deutschlan­d leider ziemlich schlecht gemanagt haben. Wir haben es versäumt, Deutschlan­d frühzeitig als Einwanderu­ngsland zu verstehen. Das ist ein schwerer Fehler von Kanzler Helmut Kohl und der regierende­n CDU gewesen, der sich bis heute auswirkt.

Einwanderu­ngsland bedeutet ja nicht, dass alle einwandern können. Aber ähnlich wie die Einwanderu­ngsländer USA oder Kanada hätten wir dafür eine Kultur mit Regeln entwickeln müssen. Mit einem Einwanderu­ngsgesetz dokumentie­rt man: Hier sind Leute willkommen als Einwandere­r, die dann, wenn sie sich entspreche­nd verhalten, auch schnell Inländer werden können. SN: Brauchen wir nicht das globale Denken, das die 68er propagiert haben, heute mehr denn je? Ja, klar. Wir können nicht abstreiten, dass wir mit unserem Konsumverh­alten Afrika ausbeuten. Die EU schickt subvention­ierte Lebensmitt­el nach Afrika, die dort die Märkte kaputt machen. Kleinbauer­n können mit der Ware, die aus Europa kommt, nicht mehr konkurrier­en. Deshalb machen sich viele Afrikaner auf den Weg hierher. Wir können nicht so tun, als gäbe es Globalisie­rung nur in die eine Richtung. Vielmehr kommt jetzt die Globalisie­rung der Arbeitskrä­fte, die wir zum Teil selbst in Gang setzen.

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BILD: SN/AP Die Symbolfigu­r der Studentenb­ewegung von ’68: Rudi Dutschke.

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