1960 Er brach das eiserne Schweigen
Lang war die österreichische Literatur damit beschäftigt, Krieg und Nationalsozialismus aus dem eigenen Verantwortungsbereich zu schieben. Und dann kam Hans Lebert mit dem furchterregenden Roman „Die Wolfshaut“.
Als im Jahr 1948 Ilse Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“erschien, war er ein absoluter Singulär. Niemand sonst in Österreich wagte es, über die jüngste Vergangenheit zu schreiben, und so sollte es noch lang bleiben. Aichinger wagte es, von Flucht, Vertreibung und Deportation zu erzählen, vermied aber den hart realistischen Zugriff, wie es in Deutschland Heinrich Böll unternahm, sondern bediente sich einer Sprache des Mythos, des Traums, der Imagination und der kindlichen Vermischung von Erleben und Wunsch. Als Strafe wurde das Buch kaum beachtet, es bedurfte vieler Jahre, bis der Roman als eines der maßgebenden Bücher der Nachkriegsliteratur rehabilitiert wurde.
Im Jahr 1960 aber begann sich eine Veränderung anzukündigen. Den Markt allerdings beherrschten noch immer die Meister der Ablenkung, für die es ganz natürlich war, dass über die Vergangenheit eine Decke des Stillschweigens zu breiten sei. Gertrud Fussenegger veröffentlichte ihren Roman „Zeit der Raben, Zeit der Tauben“, eine heute so quälend umständlich wie heuchlerisch bigott anmutende Romanbiografie über den katholischen Dichter Léon Bloy. Dass Fussenegger dem Führer ihre Ergebenheit versicherte, sollte sie später nicht mehr so genau wissen. Oder der unsägliche Josef Friedrich Perkonig. Im Jahr 1941 veröffentlichte er „Kärnten, deutscher Süden“, worin folgende klägliche Unterwerfungsgeste an die Nationalsozialisten zu lesen ist: „Das Wesentliche aller stofflichen und seelischen Kultur war germanisch, war deutsch und ist es geblieben bis heute.“Perkonig war ein liebenswürdiger Mann, heißt es. Im Jahr 1960 erschien sein Büchlein „Ein Laib Brot, ein Krug Milch“, ein Lob der Bescheidenheit, wie es auch Karl Heinrich Waggerl, der den „Anschluss“freudig begrüßt hatte, gut anstand. Fussenegger, Perkonig, Waggerl, nirgends eine Spur von Einsicht. Das konnte nur deshalb durchgehen, weil die Gesellschaft selbst ihr schlechtes Gewissen lieber unter Verschluss hielt.
Alexander Lernet-Holenia flüchtete sich mit dem Roman „Prinz Eugen“in die weiten, unverfänglichen Gefilde der Geschichte, wo sich auch Erwin Herbert Reinalter gern tummelte, um sie in „Kaisermanöver“noch mit einer kräftigen Portion Kitsch anzureichern. Das waren die Bücher, die sich verkauften und meinungsbildend waren. Dann schon lieber Johannes Mario Simmel, der mit seinem Roman „Es muss nicht immer Kaviar sein“das große Publikum erreichte, aber nicht verlogen Zeitgeschichte aussparte. Er lieferte Spannungsliteratur und schmuggelte dennoch pazifistisches Gedankengut ins Buch.
Bevor die Jungen darangingen, der Ablenkungsindustrie etwas entgegenzusetzen und die österreichische Literatur von Grund auf zu verändern, begehrten zwei ältere Männer auf, die ihre tragischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gemacht hatten. Ernst Lothar war im Alter von 48 Jahren gezwungen, Österreich zu verlassen. Er wurde von seinem Posten als Direktor des Theaters in der Josefstadt gedrängt, ging zuerst in die Schweiz, später in die USA. 1960 veröffentlichte er seine Erinnerungen unter dem Titel „Das Wunder des Überlebens“. Mit Hans Leberts Roman „Die Wolfshaut“aber bekam die Literatur tatsächlich eine andere Richtung.
Das Land, von der konservativen Fraktion als Gegen-Ort zur Stadt in Stellung gebracht, wo Krankheit zu Hause ist, die furchtbare Moderne Einzug hält und Sittenlosigkeit einem allgemeinen Werteverlust Vorschub leistet, wird bei Lebert zum Rückzugsgebiet der Dumpfköpfe. Dieser Roman läutet die Phase der Anti-Heimat-Literatur ein, für die in den Sechzigerjahren so spitzfindige Literaten wie Elfriede Jelinek, Peter Handke, Thomas Bernhard, Werner Kofler, Gert Jonke oder Gerhard Roth stehen.
„Die Wolfshaut“ist ein Buch, dem das Prädikat notwendig zusteht. Es ist angelegt als Kriminalroman und nimmt die Form einer Parabel an, die von vornherein auf Allgemeingültigkeit abgestimmt ist. Das Dorf, ein typisch österreichischer Flecken bewohnt von Kraftlackeln der Selbstherrlichkeit, heißt „Schweigen“, was auf die hiesige Spezialität des Vertuschens hinweist. Es gibt allen Grund, stillzuhalten, denn das Verbrechen hat sich tief in die Gesellschaft eingegraben und die Honoratioren, Stehaufmännchen der Politik, tragen schwer an der Schuld – wenn sie diese nur eingestehen würden.
Der Unruhestifter kommt von außen. Der Matrose Johann Unfreund erscheint im Dorf. Er macht sich nicht nur verdächtig, weil sich seither Morde ereignen, sondern vielmehr dadurch, dass er sich für die Ereignisse interessiert, die mit der Ermordung von Zwangsarbeitern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Verbindung stehen. Niemand will sich erinnern, weil nicht Einzelne am Verbrechen beteiligt waren, sondern das ganze Dorf. Gerechtigkeit gibt es bei Lebert nicht, selbst Haupttäter kommen davon, weil sie sich als Politiker hinter ihrer Immunität verstecken dürfen. So sieht Leberts literarische Rache an einem Land aus, dessen Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit ausgesprochen dürftig verlaufen ist.
Die Natur spielt nicht mit. Sie verhängt dem Dorf ihre eigene Strafe, indem sie es in einem Dauerregen untergehen lässt. Wenigstens die Natur ist nicht korrumpierbar.
Lebert fand keinen österreichischen Verlag, sodass der Roman in Deutschland erscheinen musste. Das Publikum wollte sich von einem derart unheimlichen Buch nicht verunsichern lassen und las es vorsichtshalber gar nicht. Es kam erst mit Verspätung bei den österreichischen Lesern an, als diese sich schon daran gewöhnt hatten, dass es die Literatur inzwischen auf das Zerstören der Gemütlichkeit abgesehen hatte. Dass das Böse nicht ein Wolf im finsteren Wald ist, sondern in uns sitzt, war gewöhnungsbedürftig.