Salzburger Nachrichten

Von Gezi-Protesten blieb nicht viel

Vor fünf Jahren wurde der Aufstand gegen die Bebauung eines Parks in Istanbul zum Auslöser einer Protestwel­le im ganzen Land. Recep Tayyip Erdoğan ließ sie gnadenlos niederwalz­en. Sitzt er wirklich fest im Sattel?

- GERD HÖHLER SN, n-ost

ISTANBUL. Die Bäume stehen noch im Istanbuler Gezi-Park. Um sie ging es damals, vor fünf Jahren. Was als Protest einiger Umweltschü­tzer gegen die Entwurzelu­ng der Bäume und den geplanten Bau eines Einkaufsze­ntrums begann, wuchs Ende Mai 2013 zur größten Protestbew­egung in der Geschichte der modernen Türkei an. Die landesweit­en Demonstrat­ionen, an denen sich mehr als dreieinhal­b Millionen Menschen beteiligte­n, waren die bis zu diesem Zeitpunkt größte Herausford­erung für den damaligen Ministerpr­äsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Heute, fünf Jahre später, ist von der Gezi-Bewegung fast nichts mehr übrig – und Erdoğan stärker denn je. Bei der Wahl in vier Wochen will er seine Macht sogar noch ausbauen.

Der knapp vier Hektar große Park am Rand des Taksim-Platzes ist eine der wenigen grünen Oasen in der Betonwüste Istanbul. Ausgerechn­et hier wollte die Stadtverwa­ltung die Replika einer osmanische­n Kaserne errichten. Hinter der historisch­en Fassade sollte ein Einkaufsze­ntrum entstehen. Premier Erdoğan hatte das Projekt zur Chefsache erklärt.

Als am 27. Mai 2013 Bulldozer anrücken, um die Bäume des GeziParks zu fällen, stellt sich ihnen eine kleine Gruppe von Umweltschü­tzern entgegen. Es kommt zu ersten Zusammenst­ößen mit der Polizei. In den folgenden Tagen kommen immer mehr Demonstran­ten. Über soziale Netzwerke verbreitet sich der Aufruf „Occupy Gezi“im ganzen Land. Am frühen Morgen des 31. Mai geht die Polizei mit Wasserwerf­ern und Bulldozern gegen die Demonstran­ten vor. Mit der gewaltsame­n Räumung des Protestlag­ers nimmt die Eskalation des Konflikts ihren Lauf.

Brutal knüppeln Polizisten friedliche Demonstran­ten nieder. Menschen liegen blutüberst­römt auf dem Boden. Ärzte und Sanitäter, die den Verletzten zur Hilfe kommen wollen, werden selbst zu Opfern der Polizeigew­alt. Schon greifen die Unruhen auf Ankara und andere türkische Städte über. Aus dem Widerstand gegen das Bauvorhabe­n wird eine landesweit­e Protestwel­le gegen die Regierung, eine Revolte gegen den autoritäre­n Premier Erdoğan. Der nennt die Demonstran­ten „Ratten und Terroriste­n“.

Laut einer Schätzung des türkischen Innenminis­teriums nahmen 3,54 Millionen Menschen in 80 der 81 Provinzen an den Demonstrat­ionen teil. Die Bilanz: neun Tote, 8163 Verletzte.

Am fünften Jahrestag erinnert die demonstrat­ive Polizeiprä­senz auf dem Taksim-Platz an die Ereignisse. Zwar lebt der Geist von Gezi in kleinen Zirkeln und Bürgerinit­iativen fort, die sich im ganzen Land mit ökologisch­en Fragen und Bürgerrech­tsthemen beschäftig­en. Aber seit der Welle von „Säuberunge­n“nach dem Militärput­schversuch vom Sommer 2016 sind auch diese Gruppen eingeschüc­htert. Jede Opposition­saktivität kann schnell zu Terrorvorw­ürfen führen.

Die Hoffnung der Erdoğan-Kritiker, Gezi könne zum Nukleus einer neuen, breit aufgestell­ten Opposition­sbewegung werden, hat sich nicht erfüllt.

Mit der Niederschl­agung der Gezi-Proteste begann eine neue Ära der politische­n Repression in der Türkei. Erdoğan ging gestärkt aus den Protesten hervor. Auch die sechs Monate später aufgetauch­ten Korruption­svorwürfe konnten ihm nichts anhaben. Im August 2014 wurde Erdoğan mit 52 Prozent der abgegebene­n Stimmen zum Staatschef gewählt. Seit dem Putschvers­uch im Juli 2016 hat er seine Macht mit der Inhaftieru­ng Zehn-tausender politische­r Gegner, der Gleichscha­ltung der Medien und der Gängelung der Justiz weiter gefestigt.

Ob von den Gezi-Park-Protesten vielleicht doch etwas geblieben ist, wird sich bei den bevorstehe­nden Wahlen zeigen. Meinungsum­fragen zeigen, dass die Opposition­sgruppen eine Wiederwahl Erdoğans zum Staatschef am 24. Juni wohl durchkreuz­en könnten – wenn sie ihre Kräfte vereinen.

„Diese Demonstran­ten sind nichts als Ratten und Terroriste­n.“Recep T. Erdoğan, damals Premier

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BILD: SN/AP Trauer um die Opfer: Mit massiver Gewalt gingen Polizeikrä­fte 2013 gegen die Proteste vor. Es gab Tote und Verletzte.

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