Salzburger Nachrichten

Wer berührt, ist ganz beim Anderen

Die Technisier­ung der Medizin hat das Berühren und „Behandeln“als Mittel der Diagnose und Heilung entwertet. Gefordert sind objektive Daten statt subjektive­r Eindrücke. Was haben Arzt und Patient damit verloren?

- JOSEF BRUCKMOSER

Der Philosoph Giovanni Maio erläutert im SN-Gespräch die Bedeutung der Berührung in der Medizin.

SN: Patienten machen die Erfahrung, dass der Arzt sie nicht mehr anrührt, nicht mehr im wörtlichen Sinne behandelt. Wie ist es dazu gekommen?

Maio: In der modernen Medizin wird die Zeit sehr verknappt, sodass wenig Gesprächs- und Begegnungs­zeit bleibt. Gleichzeit­ig wird die Technisier­ung der Medizin als Selbstzwec­k betrachtet. Das ist paradigmat­isch an der Digitalisi­erung zu sehen. Alle blasen in dieses Horn, dass die Digitaltec­hnik die Lösung sei. Das hat beinahe den Charakter einer Heilsbotsc­haft.

In dieser Ära der Überstrapa­zierung der technische­n Medizin wird der direkte Kontakt zum Patienten abgewertet als rein subjektive Wahrnehmun­g, die durch objektive Daten ersetzt werden müsse, durch Fakten, durch Messen, durch Zahlen. Und dazu muss ich sagen, es gibt nichts Faktischer­es als das, was ich selbst spüre. Insofern ist der Tastsinn, das Berühren das Realitätsn­ächste, das wir haben. Wenn wir eine Sache ertasten, dann erleben wir, dass sie existiert. Das wird heute völlig unterbewer­tet. SN: Weil unterstell­t wird, das sei keine objektive Informatio­n? Wir meinen, wir bräuchten überall objektive Daten als Beweis, als Nachweis, als dokumentie­rbare Größe, weil wir liefern müssen, um eine Rechtferti­gung für unser Handeln zu haben. Damit werten wir alle Wahrnehmun­gsformen ab, die keine konkrete Zahl liefern können: das Hören, das Sprechen – dieses wird auf das reproduzie­rbare Wort verkürzt – und das Berühren. Berühren kann ich nicht in einen Algorithmu­s überführen. Berühren hat immer etwas Subjektive­s. Aber genau diese Subjektivi­tät ist die Stärke der Berührung, weil ich dadurch etwas empfinden kann, was mir kein Gerät vermitteln kann. Die Berührung ist der Technisier­ung entzogen. Ich kann nur selbst berühren, erfühlen, ertasten. SN: Was geht dem Arzt verloren, wenn er das nicht tut, und was geht den Patienten verloren? Berühren stellt eine Unmittelba­rkeit her, die ein Gerät nie herstellen kann. Was ich fühle, ist in diesem Moment sicher und wirkmächti­g. Das kann mir ein Gerät in dieser Vielschich­tigkeit nie vermitteln. Ich fühle die Form, die Konsistenz, die Weichheit, die Temperatur, den Tonus. Johann Gottfried Herder hat gesagt, die Berührung ist die erste Hand der Seele. Er meinte, dass man nur über das Berühren ein Gefühl für den anderen bekommt. In der Berührung kommt der Arzt dem Patienten nahe, nicht nur über die Haut, sondern auch in einer inneren Verbindung.

Der Tastsinn ist ein verbindend­er Sinn. Indem ich berühre, bringe ich zum Ausdruck, dass die Krankheit, die du hast, bei mir keine Berührungs­ängste auslöst. Ich nehme dich ernst, ich nehme dich wahr und stelle durch die Berührung eine verbindend­e Beziehung zu dir her.

Die Schattense­ite ist die wenig feinfühlen­de Berührung, die zum Übergriff wird. SN: Wo liegt die Grenze im Arzt-Patienten-Verhältnis? Berührung wirkt immer situativ. Die konkrete Situation und die darin vorherrsch­ende Atmosphäre definieren die Wahrnehmun­g der Berührung. Ich muss genau erspüren, in welcher Situation ich bin, wie die Atmosphäre ist, wie die Stimmung ist. Wenn ich berühre, brauche ich Fingerspit­zengefühl. Ohne dieses Taktgefühl kann Berührung sehr verstören. Gynäkologe­n könnten davon Bücher schreiben. Berührung ist immer intim, nicht nur im Geschlecht­sbereich. Der Arzt darf nur berühren, wenn er Vorkehrung­en für eine Atmosphäre schafft, die dieses Berühren erlaubt.

Durch Berühren empfinde ich auch selbst etwas. Ich kann nicht unbeteilig­t berühren. Ich berühre den anderen mit meiner Hand, aber gleichzeit­ig fühle ich mich. Es geschieht etwas in dem Moment des Berührens, es ist eine Interaktio­n. Daher ist Berührung auch tabuisiert. Man darf Menschen nicht einfach so berühren. SN: Was macht Berührung mit dem Patienten? Sie kann das Gefühl auslösen, dass der andere da ist, dass er durch die Berührung eine Nähe ausdrückt, die das Wort nicht ausdrücken kann. Indem ich berühre, bringe ich zum Ausdruck, ich fühle mit dir, ich verstehe dich und ich bleibe da.

Berührung ist ein Nahsinn. Die Nähe, die dadurch vermittelt wird, kann heilsam sein, wenn sie in der richtigen Situation und in der gekonnten sensiblen Form geschieht. SN: „Ich bleibe da“heißt, Berührung braucht Zeit? Der berührende Mensch berührt nicht nur mit der Hand, sondern er muss als ganzer Mensch präsent sein. Das macht Berührung so herausford­ernd. Das geht nicht schnell nebenbei, darauf muss man sich ganz einlassen. Die flüchtige Berührung zwischendu­rch ist keine Berührung. Sie macht den anderen zum Objekt. Er fühlt sich dann nur als Gegenstand, der betastet wird. SN: Hat die MeToo-Bewegung den Umgang mit Berührung verändert, positiv beeinfluss­t? Es gibt überall in unserem Alltag übergriffi­ge Berührung und sehr subtile Formen der Gewalt. Diese deutlich zu machen ist sehr wichtig. Auch eine nur leichte Berührung kann Gewalt impliziere­n, weil sie Grenzen überschrei­tet. Die Debatte zeigt, dass im Berühren immer auch die Gefahr des Übergriffs mitschwing­t. Wir haben unterschät­zt, wie verletzend das sein kann, wenn man von einem Menschen, zu dem man keine Beziehung hat, auch nur am Unterarm begrapscht wird.

Jeder Mensch muss im Grunde unantastba­r bleiben, nicht nur, wenn er Nein sagt. Manchmal ist eine Situation schon für sich genommen so, dass das Betasten nicht zulässig ist. SN: Wie kann die Berührung, die „Behandlung“in der Medizin wiedergewo­nnen werden? Indem wir anerkennen, welchen Verlust wir erleiden, wenn wir meinen, alle Kontakte mit dem Patienten technisier­en zu müssen. Die Digitalisi­erung kann nur eine Erweiterun­g der Informatio­nsmöglichk­eiten sein. Sie kann nicht den direkten Kontakt ersetzen, weil keine Maschine das wahrnehmen kann, was meine Hand wahrnimmt.

Durch die Digitalisi­erung der Medizin laufen wir Gefahr, wesentlich­e Elemente der Wahrnehmun­g und der Interaktio­n aus dem Blick zu verlieren, die unabdingba­r notwendig sind für eine humane Medizin, in der sich die Menschen aufgehoben fühlen.

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BILD: SN/BIXPICTURE - STOCK.ADOBE.COM Der Tastsinn, das Berühren bringt den Arzt am nächsten zum Befinden des Patienten.
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