Wer berührt, ist ganz beim Anderen
Die Technisierung der Medizin hat das Berühren und „Behandeln“als Mittel der Diagnose und Heilung entwertet. Gefordert sind objektive Daten statt subjektiver Eindrücke. Was haben Arzt und Patient damit verloren?
Der Philosoph Giovanni Maio erläutert im SN-Gespräch die Bedeutung der Berührung in der Medizin.
SN: Patienten machen die Erfahrung, dass der Arzt sie nicht mehr anrührt, nicht mehr im wörtlichen Sinne behandelt. Wie ist es dazu gekommen?
Maio: In der modernen Medizin wird die Zeit sehr verknappt, sodass wenig Gesprächs- und Begegnungszeit bleibt. Gleichzeitig wird die Technisierung der Medizin als Selbstzweck betrachtet. Das ist paradigmatisch an der Digitalisierung zu sehen. Alle blasen in dieses Horn, dass die Digitaltechnik die Lösung sei. Das hat beinahe den Charakter einer Heilsbotschaft.
In dieser Ära der Überstrapazierung der technischen Medizin wird der direkte Kontakt zum Patienten abgewertet als rein subjektive Wahrnehmung, die durch objektive Daten ersetzt werden müsse, durch Fakten, durch Messen, durch Zahlen. Und dazu muss ich sagen, es gibt nichts Faktischeres als das, was ich selbst spüre. Insofern ist der Tastsinn, das Berühren das Realitätsnächste, das wir haben. Wenn wir eine Sache ertasten, dann erleben wir, dass sie existiert. Das wird heute völlig unterbewertet. SN: Weil unterstellt wird, das sei keine objektive Information? Wir meinen, wir bräuchten überall objektive Daten als Beweis, als Nachweis, als dokumentierbare Größe, weil wir liefern müssen, um eine Rechtfertigung für unser Handeln zu haben. Damit werten wir alle Wahrnehmungsformen ab, die keine konkrete Zahl liefern können: das Hören, das Sprechen – dieses wird auf das reproduzierbare Wort verkürzt – und das Berühren. Berühren kann ich nicht in einen Algorithmus überführen. Berühren hat immer etwas Subjektives. Aber genau diese Subjektivität ist die Stärke der Berührung, weil ich dadurch etwas empfinden kann, was mir kein Gerät vermitteln kann. Die Berührung ist der Technisierung entzogen. Ich kann nur selbst berühren, erfühlen, ertasten. SN: Was geht dem Arzt verloren, wenn er das nicht tut, und was geht den Patienten verloren? Berühren stellt eine Unmittelbarkeit her, die ein Gerät nie herstellen kann. Was ich fühle, ist in diesem Moment sicher und wirkmächtig. Das kann mir ein Gerät in dieser Vielschichtigkeit nie vermitteln. Ich fühle die Form, die Konsistenz, die Weichheit, die Temperatur, den Tonus. Johann Gottfried Herder hat gesagt, die Berührung ist die erste Hand der Seele. Er meinte, dass man nur über das Berühren ein Gefühl für den anderen bekommt. In der Berührung kommt der Arzt dem Patienten nahe, nicht nur über die Haut, sondern auch in einer inneren Verbindung.
Der Tastsinn ist ein verbindender Sinn. Indem ich berühre, bringe ich zum Ausdruck, dass die Krankheit, die du hast, bei mir keine Berührungsängste auslöst. Ich nehme dich ernst, ich nehme dich wahr und stelle durch die Berührung eine verbindende Beziehung zu dir her.
Die Schattenseite ist die wenig feinfühlende Berührung, die zum Übergriff wird. SN: Wo liegt die Grenze im Arzt-Patienten-Verhältnis? Berührung wirkt immer situativ. Die konkrete Situation und die darin vorherrschende Atmosphäre definieren die Wahrnehmung der Berührung. Ich muss genau erspüren, in welcher Situation ich bin, wie die Atmosphäre ist, wie die Stimmung ist. Wenn ich berühre, brauche ich Fingerspitzengefühl. Ohne dieses Taktgefühl kann Berührung sehr verstören. Gynäkologen könnten davon Bücher schreiben. Berührung ist immer intim, nicht nur im Geschlechtsbereich. Der Arzt darf nur berühren, wenn er Vorkehrungen für eine Atmosphäre schafft, die dieses Berühren erlaubt.
Durch Berühren empfinde ich auch selbst etwas. Ich kann nicht unbeteiligt berühren. Ich berühre den anderen mit meiner Hand, aber gleichzeitig fühle ich mich. Es geschieht etwas in dem Moment des Berührens, es ist eine Interaktion. Daher ist Berührung auch tabuisiert. Man darf Menschen nicht einfach so berühren. SN: Was macht Berührung mit dem Patienten? Sie kann das Gefühl auslösen, dass der andere da ist, dass er durch die Berührung eine Nähe ausdrückt, die das Wort nicht ausdrücken kann. Indem ich berühre, bringe ich zum Ausdruck, ich fühle mit dir, ich verstehe dich und ich bleibe da.
Berührung ist ein Nahsinn. Die Nähe, die dadurch vermittelt wird, kann heilsam sein, wenn sie in der richtigen Situation und in der gekonnten sensiblen Form geschieht. SN: „Ich bleibe da“heißt, Berührung braucht Zeit? Der berührende Mensch berührt nicht nur mit der Hand, sondern er muss als ganzer Mensch präsent sein. Das macht Berührung so herausfordernd. Das geht nicht schnell nebenbei, darauf muss man sich ganz einlassen. Die flüchtige Berührung zwischendurch ist keine Berührung. Sie macht den anderen zum Objekt. Er fühlt sich dann nur als Gegenstand, der betastet wird. SN: Hat die MeToo-Bewegung den Umgang mit Berührung verändert, positiv beeinflusst? Es gibt überall in unserem Alltag übergriffige Berührung und sehr subtile Formen der Gewalt. Diese deutlich zu machen ist sehr wichtig. Auch eine nur leichte Berührung kann Gewalt implizieren, weil sie Grenzen überschreitet. Die Debatte zeigt, dass im Berühren immer auch die Gefahr des Übergriffs mitschwingt. Wir haben unterschätzt, wie verletzend das sein kann, wenn man von einem Menschen, zu dem man keine Beziehung hat, auch nur am Unterarm begrapscht wird.
Jeder Mensch muss im Grunde unantastbar bleiben, nicht nur, wenn er Nein sagt. Manchmal ist eine Situation schon für sich genommen so, dass das Betasten nicht zulässig ist. SN: Wie kann die Berührung, die „Behandlung“in der Medizin wiedergewonnen werden? Indem wir anerkennen, welchen Verlust wir erleiden, wenn wir meinen, alle Kontakte mit dem Patienten technisieren zu müssen. Die Digitalisierung kann nur eine Erweiterung der Informationsmöglichkeiten sein. Sie kann nicht den direkten Kontakt ersetzen, weil keine Maschine das wahrnehmen kann, was meine Hand wahrnimmt.
Durch die Digitalisierung der Medizin laufen wir Gefahr, wesentliche Elemente der Wahrnehmung und der Interaktion aus dem Blick zu verlieren, die unabdingbar notwendig sind für eine humane Medizin, in der sich die Menschen aufgehoben fühlen.