Feingefühl ist aller Bindung Anfang
Mütter und Väter müssen in den ersten Monaten viel probieren, um richtig auf die Bedürfnisse ihres Kindes zu reagieren. Wie eine sichere Bindung entsteht und warum das Kleinkind auf wenige Bezugspersonen konzentriert ist.
Die Psychologen und Bindungsforscher Klaus und Karin Grossmann erläutern im SN-Gespräch, warum Feinfühligkeit in der Eltern-KindBeziehung unerlässlich ist.
SN: Warum ist in Ihrer Bindungsforschung der Begriff der Feinfühligkeit so zentral geworden?
Klaus Grossmann: Wenn ein Kind geboren wird, ist es stammesgeschichtlich bereits mit einer Serie von Ausdrucksverhaltensweisen ausgestattet. Die Mutter ist intuitiv bereit, in das Kind hineinzusehen. Sie versucht herauszufinden, was das Kind will, und antwortet darauf: durch Berührung, durch die Modulation ihrer Stimme, durch Hochheben des Kindes, durch das ganze Repertoire, das eine Mutter für ihr Kind zur Verfügung hat. Dadurch findet sie heraus, was das Kind beruhigt, sodass es zufrieden ist.
Die Mutter versucht also herauszufinden, welche ihrer Verhaltensweisen dem Kind am besten zupasskommen. Das ist notwendig, weil die Mutter das Kind noch nicht kennt und das Kind die Mutter noch nicht kennt. Sie müssen erst zu einer Passung kommen. In diesem langen Prozess, in dem viel probiert wird und in dem die Mutter sehr aufmerksam sein muss, lernt das Kind, das Verhalten seiner Mutter vorherzusagen, sodass es dann durch eine gezielte Äußerung das gewünschte Verhalten herbeiführen kann. Diese Vorstellung, welche von seinen Ausdrucksverhaltensweisen zum gewünschten Verhalten bei der Mutter führen, ist der Regelkreis, der hinter dem Begriff der Feinfühligkeit steht. SN: Kann nur die Mutter dem Kind diese Feinfühligkeit bieten oder auch eine andere Person? Es kommt nicht darauf an, dass das Kind diese Feinfühligkeit von seiner biologischen Mutter erfährt, auch wenn das in den allermeisten Fällen so ist. Im Prinzip kann das jede Person sein, die dem Kind so zugeneigt ist, dass sie die dafür notwendige Zeit im Interesse des Kindes aufwenden möchte. Karin Grossmann: Ich möchte ein Beispiel ergänzen. Viele Signale des Kindes sind noch sehr unspezifisch. Ein Kind, zwei, drei Monate alt, weint. Man weiß aber nicht warum: Möchte es auf den Arm genommen werden, ist es hungrig und braucht etwas zu essen, möchte es spielen und weint um ein bestimmtes Spielzeug, oder will es einfach nur Ruhe? Da braucht es ein differenziertes Zuhören, bis man erkennt, dass das Weinen vor Hunger anders ist als das Weinen wegen eines Spielzeugs. SN: In Ihren Forschungsarbeiten spielt auch der Vater eine wichtige Rolle. Welche ist das und hat sich diese verändert? Väter sind lieber aktiv, als dass sie das Kind beruhigen wollen. Sie möchten, dass das Kind mitmacht, dass es Spaß hat. Sie werfen es hoch, sie ermutigen es zu klettern oder zu springen. Das ist ein Bereich des Kindes, den manche Mütter aus Vorsicht, dass dem Kind etwas passieren könnte, weniger unterstützen. Der Vater ist ein Mitspieler, er ist größer, stärker und weiser, aber er ermutigt mich auch, Dinge zu tun, die vielleicht ein wenig gefährlich sind. Dadurch wird das Kind mutiger. Es lernt, wenn der Vater dabei ist, würde er mich auffangen, bevor wirklich etwas passiert. SN: Wie weit können spätere Bindungserfahrungen durch eine Kindergartenpädagogin oder durch eine Lehrerin, einen Lehrer, Bindungsdefizite aus jungen Jahren ausgleichen? Was das Kind braucht, ist, dass jene Person, die es am liebsten hat und bei der es sich am verlässlichsten aufgehoben fühlt, in dem Moment, wo es sich schwach fühlt, auch wirklich da ist. Es hilft dem kleinen Kind nichts zu wissen, dass diese Person morgen wiederkommt.
Feinfühligkeit heißt, dass die betreffende Person erkennt, was das Kind braucht, und angemessen und prompt antwortet. Aber wer nicht da ist, kann nicht antworten. Daher sagen wir: Das Wichtigste in der Kinderbetreuung ist die Beständigkeit der Erzieherin, der Bezugsperson. Das Kind weiß, diese Person erkennt, wenn es mir schlecht geht und wenn ich Hilfe brauche. Ein Kind, das zu Hause diese Feinfühligkeit nicht oder zu wenig erfahren hat, kann sehr profitieren, wenn es diese Erfahrung durch eine Kindergartenpädagogin oder sogar noch später durch eine Klassenlehrerin in der Grundschule erfahren kann. Aber die Bedingung ist, dass diese Person beständig für das Kind verfügbar ist. Davon sind wir in vielen Betreuungseinrichtungen weit entfernt, weil eine Pädagogin meist für zu viele Kinder da sein muss. SN: Welche Rolle spielt der Körperkontakt, die Berührung für die Bindungsfähigkeit? Klaus Grossmann: Die Berührung gehört zur Kontaktaufnahme mit dem Kind zentral dazu. Ohne Berührung würde Bindung nicht funktionieren, aber es muss das gesamte Gefüge passen. Berührung allein bringt nichts.
Wir haben in unserer Forschung vielfach gezählt, wie oft Eltern ihr Kind küssen. Dieses Küssen hat für die Bindung überhaupt nichts gebracht, wenn das Kind das nicht von Anfang an als Wahrnehmen und feinfühlige Reaktion der Eltern auf seine Schmusebedürfnisse erfahren hat. Der Impuls muss vom Signalverhalten, vom Ausdruckssystem des Kindes ausgehen.