Gefahr der politischen Zweigesichtigkeit
Österreich übernimmt den EU-Vorsitz. Die Verlockung für die Regierung ist groß: In Brüssel hui, in Wien pfui.
Der EU-Vorsitz bietet auch Chancen
Alles schon da gewesen. Im Programm der ersten österreichischen EU-Präsidentschaft im Sommer 1998 hieß es: „Weiters wird die Vorbereitung von einheitlichen Schubabkommen der EU mit Drittstaaten notwendig sein. Ebenso soll für den Fall von Massenfluchtbewegungen ein gerechter und solidarischer Lastenausgleich gewährleistet werden.“
20 Jahre später, wenn Österreich am 1. Juli zum dritten Mal den Vorsitz der Europäischen Union für ein halbes Jahr übernimmt, hat sich nichts geändert. Es gibt nur wenige funktionierende Schubabkommen mit Herkunftsstaaten von Migranten, und es gibt so gut wie keine Solidarität zwischen den Mitgliedsländern, wenn es um die gerechte Verteilung von Flüchtlingen geht. Die EU ist zwar um viele Länder erweitert worden, aber inhaltlich hat sie sich in dieser Beziehung nicht bewegt.
Die Themen Flucht und Migration stehen weiterhin ganz groß auf der Tagesordnung. Damals tobte gerade der Kosovo-Krieg und trieb die Menschen in den vermeintlich sicheren Hafen EU. Heute sind es die Balkanländer selbst, die uns vor einem Ansturm von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und vielen afrikanischen Ländern schützen sollen.
EU-Präsidentschaften haben den österreichischen Regierungen kein innenpolitisches Glück gebracht. Kanzler Viktor Klima musste bald nach dem Vorsitz gehen, Wolfgang Schüssel erging es 2006 ebenso. Ähnliches passierte immer wieder auch in Italien, Frankreich, Irland, Griechenland und Finnland: Dort, wo die Regierung zu sehr mit dem Vorsitz der EU beschäftigt war, verlor sie anschließend zu Hause die Wahlen.
So eine EU-Präsidentschaft ist zeitraubend und bindet Kräfte. Mehr als 50 Ministertreffen und 1500 Sitzungen der Spitzenbeamten müssen koordiniert und geführt werden. Bei den Wählerinnen und Wählern zu Hause ist damit kein Blumentopf zu gewinnen. Das Gegenteil ist der Fall: Als 1998 in Wien ein EU-Gipfel abgehalten wurde, blieb den Bewohnern das Verkehrschaos, aber nicht die Tagesordnung in Erinnerung.
Vizekanzler Heinz-Christian Strache hat bereits angekündigt, er werde sich ab 1. Juli verstärkt um Österreich kümmern, während Bundeskanzler Sebastian Kurz die EU-Präsidentschaft wahrnehmen werde. Das klingt beruhigend und gefährlich zugleich. Beruhigend, weil der FPÖ-Chef damit ausdrückt, dass er sich auf europäischer Ebene, wo er ohnehin mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hat, zurückhalten werde. Gefährlich, weil er im Schatten der europäischen Scheinwerfer für innenpolitische Turbulenzen sorgen könnte.
Vor allem für den Kanzler werden es sechs anstrengende Monate. Er muss in Brüssel als ehrlicher Makler auftreten, der sich objektiv und sachlich um einen Interessenausgleich zwischen den EU-Ländern bemüht. Das ist schwierig genug. Mit dem Brexit, einem neuen Dauerbudget und der Flüchtlingsfrage stehen extrem schwierige Themen an. Ein Land, das den Vorsitz führt, soll eine eigene Meinung haben und diese auch vertreten, es darf seine nationalen Interessen aber nicht in den Vordergrund stellen, sondern muss ausgleichend wirken.
Die Gefahr besteht, dass auch diese Regierung so wie viele andere vor ihr eine gewisse Zweigesichtigkeit an den Tag legen wird. Hinter den verschlossenen Türen von Brüssel suchen wir den Konsens, zu Hause in Wien schießen wir scharf dagegen.
Der EU-Vorsitz bietet für Österreich auch Chancen. Es kann sich innerhalb der Union als Vermittler zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen Separatisten und Unionisten betätigen und damit eine diplomatische Tradition wiederaufleben lassen. Das bringt, wie gesagt, wahrscheinlich nicht viele Wählerstimmen. Aber es gibt auch so etwas wie politische Verantwortung, die man wahrnehmen muss, auch wenn einem der populistische Urtrieb etwas anderes einflüstern will.
Diesem muss kürzlich der Vizekanzler erlegen sein, als er die Niederlassungsfreiheit in der EU zur Diskussion stellte. Sie gehört zu den Grundpfeilern der EU. Wer sie abschaffen will, schafft auch gleich die ganze Union ab. Und 250.000 Österreicher, die in EU-Ländern glücklich und erfolgreich leben, arbeiten, studieren, müssen ab in die Heimat. Nein. So geht EU-Präsidentschaft nicht.