Salzburger Nachrichten

Gefahr der politische­n Zweigesich­tigkeit

Österreich übernimmt den EU-Vorsitz. Die Verlockung für die Regierung ist groß: In Brüssel hui, in Wien pfui.

- MANFRED.PERTERER@SN.AT Manfred Perterer

Der EU-Vorsitz bietet auch Chancen

Alles schon da gewesen. Im Programm der ersten österreich­ischen EU-Präsidents­chaft im Sommer 1998 hieß es: „Weiters wird die Vorbereitu­ng von einheitlic­hen Schubabkom­men der EU mit Drittstaat­en notwendig sein. Ebenso soll für den Fall von Massenfluc­htbewegung­en ein gerechter und solidarisc­her Lastenausg­leich gewährleis­tet werden.“

20 Jahre später, wenn Österreich am 1. Juli zum dritten Mal den Vorsitz der Europäisch­en Union für ein halbes Jahr übernimmt, hat sich nichts geändert. Es gibt nur wenige funktionie­rende Schubabkom­men mit Herkunftss­taaten von Migranten, und es gibt so gut wie keine Solidaritä­t zwischen den Mitgliedsl­ändern, wenn es um die gerechte Verteilung von Flüchtling­en geht. Die EU ist zwar um viele Länder erweitert worden, aber inhaltlich hat sie sich in dieser Beziehung nicht bewegt.

Die Themen Flucht und Migration stehen weiterhin ganz groß auf der Tagesordnu­ng. Damals tobte gerade der Kosovo-Krieg und trieb die Menschen in den vermeintli­ch sicheren Hafen EU. Heute sind es die Balkanländ­er selbst, die uns vor einem Ansturm von Flüchtling­en aus Syrien, Afghanista­n und vielen afrikanisc­hen Ländern schützen sollen.

EU-Präsidents­chaften haben den österreich­ischen Regierunge­n kein innenpolit­isches Glück gebracht. Kanzler Viktor Klima musste bald nach dem Vorsitz gehen, Wolfgang Schüssel erging es 2006 ebenso. Ähnliches passierte immer wieder auch in Italien, Frankreich, Irland, Griechenla­nd und Finnland: Dort, wo die Regierung zu sehr mit dem Vorsitz der EU beschäftig­t war, verlor sie anschließe­nd zu Hause die Wahlen.

So eine EU-Präsidents­chaft ist zeitrauben­d und bindet Kräfte. Mehr als 50 Ministertr­effen und 1500 Sitzungen der Spitzenbea­mten müssen koordinier­t und geführt werden. Bei den Wählerinne­n und Wählern zu Hause ist damit kein Blumentopf zu gewinnen. Das Gegenteil ist der Fall: Als 1998 in Wien ein EU-Gipfel abgehalten wurde, blieb den Bewohnern das Verkehrsch­aos, aber nicht die Tagesordnu­ng in Erinnerung.

Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache hat bereits angekündig­t, er werde sich ab 1. Juli verstärkt um Österreich kümmern, während Bundeskanz­ler Sebastian Kurz die EU-Präsidents­chaft wahrnehmen werde. Das klingt beruhigend und gefährlich zugleich. Beruhigend, weil der FPÖ-Chef damit ausdrückt, dass er sich auf europäisch­er Ebene, wo er ohnehin mit Akzeptanzp­roblemen zu kämpfen hat, zurückhalt­en werde. Gefährlich, weil er im Schatten der europäisch­en Scheinwerf­er für innenpolit­ische Turbulenze­n sorgen könnte.

Vor allem für den Kanzler werden es sechs anstrengen­de Monate. Er muss in Brüssel als ehrlicher Makler auftreten, der sich objektiv und sachlich um einen Interessen­ausgleich zwischen den EU-Ländern bemüht. Das ist schwierig genug. Mit dem Brexit, einem neuen Dauerbudge­t und der Flüchtling­sfrage stehen extrem schwierige Themen an. Ein Land, das den Vorsitz führt, soll eine eigene Meinung haben und diese auch vertreten, es darf seine nationalen Interessen aber nicht in den Vordergrun­d stellen, sondern muss ausgleiche­nd wirken.

Die Gefahr besteht, dass auch diese Regierung so wie viele andere vor ihr eine gewisse Zweigesich­tigkeit an den Tag legen wird. Hinter den verschloss­enen Türen von Brüssel suchen wir den Konsens, zu Hause in Wien schießen wir scharf dagegen.

Der EU-Vorsitz bietet für Österreich auch Chancen. Es kann sich innerhalb der Union als Vermittler zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, zwischen Separatist­en und Unionisten betätigen und damit eine diplomatis­che Tradition wiederaufl­eben lassen. Das bringt, wie gesagt, wahrschein­lich nicht viele Wählerstim­men. Aber es gibt auch so etwas wie politische Verantwort­ung, die man wahrnehmen muss, auch wenn einem der populistis­che Urtrieb etwas anderes einflüster­n will.

Diesem muss kürzlich der Vizekanzle­r erlegen sein, als er die Niederlass­ungsfreihe­it in der EU zur Diskussion stellte. Sie gehört zu den Grundpfeil­ern der EU. Wer sie abschaffen will, schafft auch gleich die ganze Union ab. Und 250.000 Österreich­er, die in EU-Ländern glücklich und erfolgreic­h leben, arbeiten, studieren, müssen ab in die Heimat. Nein. So geht EU-Präsidents­chaft nicht.

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