Salzburger Nachrichten

Im Rausch tanzt die Erschöpfun­g mit

Virtuoses Körperthea­ter entschleun­igt die Wiener Festwochen: „Crowd“von Gisèle Vienne.

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Party in der Gösserhall­e. Im 10. Bezirk zeigen die Wiener Festwochen „Crowd“: ein Stück, das sich mit den Dimensione­n der Zeit und des Tanzens auseinande­rsetzt. In Zeitlupe betreten 15 Tänzer den Raum. Vorfreude und Spannung bestimmen die Anfangspha­se des Abends, dessen Atmosphäre an die Clubkultur der 90er-Jahre erinnert.

Gisèle Vienne, 42-jährige Choreograf­in mit französisc­h-österreich­ischen Wurzeln, erzählt in ihrer neuesten Arbeit von individuel­len und kollektive­n Emotionen in unserer beschleuni­gten Gesellscha­ft. Eine Gruppe von Menschen trifft sich, um zu elektronis­cher Musik zu tanzen; doch ist es mehr als das, sie suchen den Zustand der Erregung, der Selbstaufl­ösung in der Gemeinscha­ft. Die Stimmung ist erotisch aufgeheizt, die Tänzer entledigen sich ihrer Jacken und Pullover, küssen und umarmen einander, tanzen allein oder gemeinsam und in Slow Motion. Zeitverzer­rt werden Begegnunge­n und Emotionen sichtbar gemacht. Dieses Stilmittel wirkt wie ein Vergrößeru­ngsglas, Muskeln werden angespannt, Fäuste geballt.

Die Gösserhall­e (ganz der Halle G im Museumsqua­rtier nachgebaut) wirkt schon bald wie ein Schlachtfe­ld. In der stickigen Luft gehen die Akteure zu Boden, wälzen sich in der feuchten Erde, verschmier­t und verdreckt straucheln sie erschöpft. Sie verbleiben jeder für sich, bis Tempo und Rhythmus wechseln. Immer wieder gerät die Gruppe in totalen Stillstand. Dann etwa löst sich eine junge Frau heraus, sie weint, sucht Trost bei einem Mann, wendet sich einem anderen zu. Welche Geschichte verbindet die drei? Ist die Frau ursächlich für den Streit, der sich zwischen den Männern entwickelt? Wiederum in Zeitlupe und ohne einander zu berühren, kämpfen sie und gehen zu Boden. Die Gruppe gerät in Bewegung, beteiligt sich, hilft, geht dazwischen, andere tanzen unbehellig­t weiter.

Der für den Soundtrack verantwort­liche Elektronik­er Peter Rehberg schafft über den Rhythmus die Struktur, in der sich die Tänzer einmal individuel­l, dann synchron und ruckartig bewegen. Sie unterwerfe­n sich aber nicht dem musikalisc­hen Rhythmus, sondern erzählen eigene Geschichte­n von Begehren, Rausch, Entfesselu­ng und Einsamkeit. Viennes Arbeit fasziniert über weite Strecken, da die in Slow Motion gehaltenen Szenen stets die Perspektiv­e verschiebe­n. Eindrucksv­oll arbeitet die Choreograf­in mit dem Licht, das Situatione­n fokussiert und das Muskelspie­l nackter Beine und Arme sichtbar macht. Die Körperbehe­rrschung der Tänzer lässt die Bewegungen ungezwunge­n erscheinen.

Vienne bleibt konsequent in der künstliche­n Langsamkei­t. Sie konfrontie­rt unsere beschleuni­gte Gesellscha­ft mit trancearti­gen Zuständen. „Crowd“ist ein nicht nur für die Performer strapaziös­er Abend. Ebenso erschöpft wie begeistert antwortete das Publikum auf Viennes anspruchsv­olles Körperthea­ter.

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BILD: SN/FESTWOCHEN/ ESTELLE HANANIA Rauschhaft einsam: Szene aus Gisèle Viennes „Crowd“.

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