Salzburger Nachrichten

Ein Wahn namens Selbsterl

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Handybesit­zer von sich und etwas anderem machen. Gang und gäbe sind beispielsw­eise Selbsterl mit der Mona Lisa oder dem Eiffelturm. Aber bei allem Respekt: Weder was den Liebreiz noch was die vertikale Ausdehnung betrifft, kann unser Staatsober­haupt mit den genannten Foto-Objekten Schritt halten. Was also bewegt Touristen dazu, Selbsterl mit ihm zu machen?

Diese Frage ist politische­r, als man denkt. Denn nicht nur der Herr Bundespräs­ident, sondern auch viele andere Politiker müssen permanent als Staffage für Selbstport­räts herhalten. Im letzten Wahlkampf bestieg der damalige Kanzler Christian Kern eine Grazer Straßenbah­n, um mit dem Volk ins Gespräch zu kommen. Der Effekt war: Die wenigsten wollten mit ihm reden, aber alle wollten mit ihm ein Selbsterl.

Ähnliches und noch viel mehr könnte sein Nachfolger Sebastian Kurz berichten. Hätte der Kanzler jedes Handy-Foto, für das er schon posierte, mit zehn Cent honoriert bekommen – längst hätte er das versproche­ne Nulldefizi­t erreicht.

Was löst bei den Menschen den unstillbar­en Drang aus, sich selbst mit Kurz, Kern, Van der Bellen, Mona Lisa oder Eiffelturm abzulichte­n?

Nach Ansicht von Expertise-Experten sind drei Antworten möglich. Erstens: Ein Selbsterl mit dem Eiffelturm oder ähnlichen Bauwerken (auch der Schiefe Turm von Pisa ist sehr beliebt) ist der Beweis, dass man wirklich dort gewesen ist. Man knipst diese Fotos also, um nicht als Reise-Flunkerer überführt werden zu können. Oder damit man ein Alibi hat, wenn einen der „Tatort“-Kommissar irgendwann mit drohendem Unterton fragt, wo man am Soundsovie­lten um 16 Uhr gewesen ist.

Anders ist das mit den Fotos „Ich und Mona Lisa“. Aus ihnen spricht zum einen die Sorge, dass die Moni allein nicht schön genug ist, weshalb man sich selbst als optische Zuwaag’ dazustelle­n muss; und zum anderen die Sorge, dass sie wieder aus dem Louvre gestohlen werden und damit auf ewig verloren sein könnte, weshalb es nötig ist, sie wenigstens fotografis­ch festzuhalt­en.

Insofern hatten die Grazer TramwayBen­utzer tatsächlic­h triftige Gründe, Christian Kern hundertfac­h zu fotografie­ren. Denn nach dem Wahlkampf war er als Kanzler ja ziemlich rasch weg. Und bei Sebastian Kurz kann man auf Dauer auch nicht wissen …

Der dritte Auslöser für die vielen Selbsterl sind die vielen Selbsterl. Wenn Reisegrupp­e um Reisegrupp­e die Mona Lisa umlagert und derart niederblit­zt, dass Leonardo da Vinci im Grab das Zucken kriegt, hat man ja gar keine Zeit, sie sich wirklich anzusehen. Das ist ärgerlich, also macht man auch selbst rasch ein Foto von ihr (und von sich – nur wegen des Größenverg­leichs).

Anhand dieses Fotos auf dem Handy kann man dann zu Hause in aller Ruhe ihre Schönheit, ihr geheimnisv­olles Lächeln und die grenzenlos­e Güte und Intelligen­z, die aus ihren Augen spricht, auf sich wirken lassen. Und genau das dürfte auch der Grund sein, warum so viele Menschen gerne Selbsterl mit österreich­ischen Politikern machen.

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