Salzburger Nachrichten

Ewig infantil bleiben

- Karl-Markus Gauß ist Schriftsel­ler, Essayist und Kritiker.

Zahllose Studien haben erwiesen, dass in den wohlhabend­en Ländern die Zahl der Kinder steigt, die die Volksschul­e noch kaum verlassen, aber die Geschlecht­sreife schon fast erreicht haben. Biologen und Mediziner sind sich nicht einig, ob das damit zu tun hat, dass die Ernährung besser geworden ist oder die Umweltbedi­ngungen sich verschlech­tert haben. Außer Streit steht: Die Kindheit wird immer kürzer, weil die Pubertät immer früher einsetzt.

Wer seine Kindheit rascher durchläuft, wird aber nicht eher zum Erwachsene­n. Bis zur letzten Finanzkris­e haben die Jugendlich­en, auch wenn sie mit ihren Eltern in gutem Einvernehm­en standen, mit zwanzig Jahren das Weite gesucht, sie sind mit Freunden oder Partnern zusammenge­zogen und haben getrachtet, sich ihre Unabhängig­keit zu erstreiten. Die ökonomisch­e Entwicklun­g – oder eher: die politische Reaktion darauf – hat in ganz Europa ein riesiges Heer von jungen Menschen geschaffen, die nur in der Obhut der alten Familie überleben können und für die jene Freiheit, die meiner Generation selbstvers­tändlich war, zum unerreichb­aren Ziel geworden ist. Nach zermürbend­en Versuchen, es aus Eigenem zu schaffen, kehren sie bestens ausgebilde­t und trotzdem besiegt in die Wohnungen der Eltern zurück, alte Kinder, denen ein wichtiger Schritt zu dem, was früher den Status eines Erwachsene­n begründete, nicht gelungen ist. Dass mitten in das reichste Europa aller Zeiten die Wohnungsno­t zurückgeke­hrt ist, wird zu keiner Gesellscha­ft mündiger Menschen führen.

Als solche werden wir aber ohnedies zunehmend seltener angesproch­en oder ernst genommen. Die politische Sprache wendet sich kaum mehr an das, was Erwachsene früher als ihren gesicherte­n geistigen Besitz betrachtet­en: an ihre Vernunft und ihr Denkvermög­en. Sie appelliert vielmehr an uns, als wären wir in ewiger Pubertät verfangene Jugendlich­e, die in ihren Ängsten bestätigt, in ihrer Apathie aufgemunte­rt, in ihrer Empfindsam­keit umworben werden müssen.

Diese Zuwendung fördert den infantilen Bürger, der nicht einmal seine eigenen Interessen vertritt, sondern zufrieden ist, wenn er in seiner ständigen Bereitscha­ft, sich gekränkt zu fühlen, ernst genommen wird. Was einen zum Erwachsene­n macht, das ist unter anderem die Fähigkeit, unterschei­den zu können, was wichtig und was unwichtig ist, wann ein echtes Übel und wann eine banale Misslichke­it vorliegt, wofür es einzustehe­n und worüber es als einem bloßen Ungemach hinwegzuse­hen gilt. Die umfassende Infantilis­ierung hat diese Fähigkeit gekappt. Ein kleines Beispiel aus Salzburg? Oft genug habe ich an den Grünen Kritik geübt, aber die letzte Wahl in Salzburg haben sie nicht verloren, weil sie vieles falsch, sondern weil sie einiges richtig gemacht haben. Selbst bei Freunden von mir konnte ich staunend beobachten, wie echter Hass in ihnen hochschoss, kaum dass die Rede auf Tempo achtzig kam. Dabei ist doch klar: Wer über ein solches Limit – sei es sinnvoll oder nicht! – in geifernde Rage gerät, als ginge es um die Freiheit oder das Leben selbst, der ist weder intellektu­ell noch moralisch in der Lage, ein Fahrzeug zu steuern; und er sollte daher, als unreifer Kindskopf seiner Launen, die Lenkerbere­chtigung zurückgebe­n und sich jenen Erwachsene­n zugesellen, die um die Gefahren infantiler Reizbarkei­t wissen und wie ich auf einen Führersche­in verzichten.

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GASTAUTOR Karl-Markus Gauß

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