Ewig infantil bleiben
Zahllose Studien haben erwiesen, dass in den wohlhabenden Ländern die Zahl der Kinder steigt, die die Volksschule noch kaum verlassen, aber die Geschlechtsreife schon fast erreicht haben. Biologen und Mediziner sind sich nicht einig, ob das damit zu tun hat, dass die Ernährung besser geworden ist oder die Umweltbedingungen sich verschlechtert haben. Außer Streit steht: Die Kindheit wird immer kürzer, weil die Pubertät immer früher einsetzt.
Wer seine Kindheit rascher durchläuft, wird aber nicht eher zum Erwachsenen. Bis zur letzten Finanzkrise haben die Jugendlichen, auch wenn sie mit ihren Eltern in gutem Einvernehmen standen, mit zwanzig Jahren das Weite gesucht, sie sind mit Freunden oder Partnern zusammengezogen und haben getrachtet, sich ihre Unabhängigkeit zu erstreiten. Die ökonomische Entwicklung – oder eher: die politische Reaktion darauf – hat in ganz Europa ein riesiges Heer von jungen Menschen geschaffen, die nur in der Obhut der alten Familie überleben können und für die jene Freiheit, die meiner Generation selbstverständlich war, zum unerreichbaren Ziel geworden ist. Nach zermürbenden Versuchen, es aus Eigenem zu schaffen, kehren sie bestens ausgebildet und trotzdem besiegt in die Wohnungen der Eltern zurück, alte Kinder, denen ein wichtiger Schritt zu dem, was früher den Status eines Erwachsenen begründete, nicht gelungen ist. Dass mitten in das reichste Europa aller Zeiten die Wohnungsnot zurückgekehrt ist, wird zu keiner Gesellschaft mündiger Menschen führen.
Als solche werden wir aber ohnedies zunehmend seltener angesprochen oder ernst genommen. Die politische Sprache wendet sich kaum mehr an das, was Erwachsene früher als ihren gesicherten geistigen Besitz betrachteten: an ihre Vernunft und ihr Denkvermögen. Sie appelliert vielmehr an uns, als wären wir in ewiger Pubertät verfangene Jugendliche, die in ihren Ängsten bestätigt, in ihrer Apathie aufgemuntert, in ihrer Empfindsamkeit umworben werden müssen.
Diese Zuwendung fördert den infantilen Bürger, der nicht einmal seine eigenen Interessen vertritt, sondern zufrieden ist, wenn er in seiner ständigen Bereitschaft, sich gekränkt zu fühlen, ernst genommen wird. Was einen zum Erwachsenen macht, das ist unter anderem die Fähigkeit, unterscheiden zu können, was wichtig und was unwichtig ist, wann ein echtes Übel und wann eine banale Misslichkeit vorliegt, wofür es einzustehen und worüber es als einem bloßen Ungemach hinwegzusehen gilt. Die umfassende Infantilisierung hat diese Fähigkeit gekappt. Ein kleines Beispiel aus Salzburg? Oft genug habe ich an den Grünen Kritik geübt, aber die letzte Wahl in Salzburg haben sie nicht verloren, weil sie vieles falsch, sondern weil sie einiges richtig gemacht haben. Selbst bei Freunden von mir konnte ich staunend beobachten, wie echter Hass in ihnen hochschoss, kaum dass die Rede auf Tempo achtzig kam. Dabei ist doch klar: Wer über ein solches Limit – sei es sinnvoll oder nicht! – in geifernde Rage gerät, als ginge es um die Freiheit oder das Leben selbst, der ist weder intellektuell noch moralisch in der Lage, ein Fahrzeug zu steuern; und er sollte daher, als unreifer Kindskopf seiner Launen, die Lenkerberechtigung zurückgeben und sich jenen Erwachsenen zugesellen, die um die Gefahren infantiler Reizbarkeit wissen und wie ich auf einen Führerschein verzichten.