Die fatale Illusion von Sicherheit
Ökonomie in der Krise. Der britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky fordert eine Ökonomie, die Menschen hilft, ihr Leben zu meistern.
K Keynes-Biograf Robert Skidelsky forscht drei Monate am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Im Interview spricht er über die Wirtschaftspolitik nach der Krise, die Folgen der Digitalisierung und die Zukunft der Ökonomie.
SN: Nach der Krise 2008/2009 haben sich Politiker an Empfehlungen erinnert, die John Maynard Keynes nach der Großen Depression der 1930er-Jahre machte. Die staatlichen Ausgaben wurden erhöht. War das richtig?
Ja, die Wirtschaft zu stimulieren war richtig, aber das dauerte nur sechs bis neun Monate. Dann verschwand Keynes in der Schublade. Jetzt haben wir einen Sparkurs.
SN: Es hat also nicht ausgereicht?
Nein. Die Fiskalpolitik wurde rasch beendet, alles konzentrierte sich auf die Reduktion der Defizite. Man überließ das Feld der Geldpolitik und der quantitativen Lockerung. Die ist ein schwaches Instrument. Und sie macht Probleme in der Zukunft, weil viel Geld geschaffen, aber nicht ausgegeben oder zur Spekulation genützt wurde.
SN: Aber die fiskalischen Anreize gab es. Und sie haben die Defizite und Schulden erhöht.
Das ist falsch. Ursache für die Defizite und Schulden war der Crash.
SN: Inwiefern?
Bei einem Crash brechen die Einnahmen ein. Wenn der Output um sechs bis sieben Prozent sinkt, wie es 2008/09 der Fall war, steigt das Defizit. Wenn zusätzlich die Banken insolvent werden und man sie stützen muss, um eine tiefere Krise zu verhindern, steigt es noch stärker. Nicht alle Länder hatten vor der Krise riesige Defizite oder eine hohe Verschuldung – im Gegenteil, die war relativ stabil. Selbst wenn es eine Tendenz für steigende Defizite und Schuldenstände vor der Krise gab, der größte Anstoß war die Krise selbst. Um die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen, war es daher falsch, die Konjunktur zu bremsen, man hätte sie ankurbeln müssen. Weil dann die Einnahmen steigen, die Ausgaben für Arbeitslosigkeit und das Defizit automatisch sinken. Vor allem aber hätten Investitionen gefördert werden sollen.
SN: Dennoch hat man den Eindruck, dass Politiker oft vergessen, dass Keynes nicht für dauerhafte Defizite eintrat, sondern für ausgeglichene Haushalte über einen Zyklus.
Politiker vereinfachen ständig die Vorschläge der Ökonomen. Sie vereinfachen Friedman, den Neoliberalismus oder Keynes auf dieselbe Weise. Es stimmt: Keynes war hinsichtlich der Fiskalpolitik ziemlich strikt. Politiker unterscheiden vor allem nicht, wofür sie Defizite machen. Für Keynes sollte der laufende Haushalt nicht nur ausgeglichen sein, sondern permanent Überschüsse aufweisen, um Schulden tilgen zu können. Aber daneben sollte es ein Budget für Investitionen geben. Diese Unterscheidung ist völlig verschwunden.
SN: Sind wir an einem Punkt, wo wir akzeptieren müssen, dass Wachstumsraten nicht mehr so hoch sind, wie sie in der Vergangenheit waren?
Vielleicht. Aber das hängt davon ab, was dem Westen und entwickelten Ländern an Wachstumsmöglichkeiten bleibt. Es gab traditionell in der Ökonomie die Sichtweise, dass das Wachstum schwächer wird, wenn Länder reicher werden, aus diversen Gründen. Das Kapital, das man dem Kapitalstock hinzufügt, bringt tendenziell weniger Ertrag. Wie weit das geht, hängt von Technologien und damit neuen Möglichkeiten ab, Kapital zu investieren. Aber wenn es eine lange Periode mit hoher Arbeitslosigkeit gibt, sinkt die Kapazität für Wachstum, weil sich das Humankapital verschlechtert.
SN: Das führt zur Debatte über die digitalisierte Wirtschaft. Viele fürchten hohe Jobverluste, Sie auch?
Natürlich werden wir Millionen Jobs verlieren, das war immer so. Die Frage ist: Wie viele werden durch andere ersetzt, die wir noch gar nicht kennen oder die es noch gar nicht gibt? In der Vergangenheit funktionierte das über die Nachfrage nach neuen Technologien und Produkten. Können wir darauf vertrauen, dass das künftig genauso sein wird? Es kann sein, dass wir eine gute Zukunft vor uns haben, aber sie wird auch nur annähernd nicht so arbeitsintensiv sein wie früher. Das bedeutet, dass wir mehr Freizeit haben. Viele Menschen arbeiten nicht mehr so hart wie früher, auch kürzer. Das scheint eine logische Konsequenz zu sein, wenn Roboter Tätigkeiten übernehmen, die früher Menschen erledigt haben.
SN: Manche sagen, es werde nötig sein, den Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu bezahlen. Was halten Sie von dieser Idee?
Es könnte ein Element des Gesamteinkommens sein. Aber grundsätzlich müsste es eine Steuer auf Roboter geben. Roboter sollten Steuer zahlen, weil sie Wohlstand produzieren. Sie haben zwar kein Einkommen, aber man kann es ihnen zurechnen, über den Wert der Güter, die sie produzieren. Und die Einnahmen sollten an jene gehen, deren Jobs ersetzt werden. Vom Konzept her ist das eine Milchmädchenrechnung, aber politisch ist es eine riesige Aufgabe.
SN: Brauchen wir ein neues Paradigma des ökonomischen Denkens?
Ja, ich glaube schon. In der Makroökonomie war Keynes’ großer Beitrag, dass er Unsicherheit miteinbezog. Das ist ein Zugang. Ein zweiter könnte sein, Ökonomie stärker mit anderen Disziplinen der Wissenschaft zu verbinden. Eine beschränkte Sicht des menschlichen Verhaltens führt zu fehlerhafter Politik. Wenn man es nur mit Selbstinteresse erklärt und die Beziehungen zu anderen ausklammert, wird man vom Aufkommen des Populismus überrascht sein.
SN: Ein entscheidender Punkt ist also, dass Ökonomen ihre Illusion von Sicherheit verwerfen sollten?
Ja, so wie Keynes es sah. Während Friedman und andere sagten, die Wirtschaft laufe von selbst, solange mit dem Geld alles in Ordnung sei; sie sei dann antizyklisch stabil. Ich behaupte das Gegenteil, die Wirtschaft wird antizyklisch instabil. Und man blendet den Aspekt der Beziehung zu anderen aus. Die Menschen sind keine Robinson Crusoes.
SN: Ist das Bild des rein rationalen und perfekt informierten Konsumenten noch vorherrschend in der Ökonomie? Hat sich das nicht schon geändert?
Es wurde herausgefordert, aber es war lange der Mainstream. Erst der Crash hat zu so etwas wie einem Umdenken geführt. Aber es dauert lange, bis Lehrbücher neu geschrieben werden. Es ist hart, von einer Sicht abzugehen, die mehr als 200 Jahre alt ist. Wie weit werden innovative Ideen vom Rand in die Mitte des ökonomischen Denkens eindringen? Es ist noch zu früh, um darauf eine Antwort zu geben. Meine größte Hoffnung sind die Studenten, denen die bestehenden Konzepte zu wenig sind.
SN: Ökonomen gelten als einflussreich. Sind sie das nicht mehr?
Doch, das sind sie. Aber die Disziplin wird einen Niedergang erleben, wenn sie die Fragen, die die Menschen interessieren, nicht beantworten kann. Es geht um eine Ökonomie, die den Menschen hilft, ihr Leben zu meistern. Ob es dazu kommt, wissen wir aber erst in 20, 30, 40 oder 50 Jahren.
Neun Monate nach der Krise verschwand Keynes wieder in der Schublade.
Robert Skidelsky, Wirtschaftshistoriker
Die Ökonomie wird einen Niedergang erleben, wenn sie die Fragen, die die Menschen interessieren, nicht beantworten kann.