Die Seelen spiegeln sich in Sonnenblumen
Egon Schiele hat entweder Menschen oder Natur gemalt. Trotzdem hat er in beidem eine tiefe Verwandtschaft erkannt.
Die dunkle, angewelkte hohe Blüte der Sonnenblume, die auf ihre Sprösslinge herabblickt, hat frappierende Ähnlichkeit mit einem anderen Bild des selben Malers. Zu dieser „Sonnenblume I“stellte der Egon-Schiele-Experte Christian Bauer eine „Mutter mit Kind“aus demselben Jahr 1908. Die Farben sind konträr: Einerseits dominieren Grün und Gelb, andrerseits Rot und Orange. Aber Formen und Sujets sind verwandt – Stängel und Hände, vertikale Achse, der herabhängende Blütenkopf und das fast leblose Gesicht der Mutter. Beiderseits geht es um die Zusammenschau von altem und neuem Leben.
Landschafts- und Menschenbilder Egon Schieles seien wesensverwandt, erläuterte Christian Bauer Ende der Vorwoche in Tulln. Die Garten- und Schiele-Stadt hatte zu einem außergewöhnlichen Symposium geladen: Philosoph, Sammlerwitwe, Gartenhistorikerin, Botaniker, Germanistin und mehrere Kunsthistoriker erörterten das Phänomen der Natur in Egon Schieles Werk. Warum ist Tulln SchieleStadt? In einer als Museum geführten Wohnung am hiesigen Bahnhof wurde der Künstler vor fast genau 128 Jahren geboren, und an der Donau ist ein von Christian Bauer neu gestaltetes Schiele-Museum.
„Die frisch aufgebrochenen Blüten stemmen sich gegen die schweren Blätter und halten dem Verfall stand“, kommentierte er beim Symposium das Gemälde „Sonnenblumen I“aus der niederösterreichischen Sammlung, für die in Krems derzeit ein Museum entsteht, das er leiten wird. „Die Sonnenblumen können als Spiegelbild des Menschen gesehen werden.“Gleiche Parallelen sieht Christian Bauer in „Herbstbaum“und Selbstporträt sowie in einem anderen Sonnenblumen-Bild und dem Porträt von Egon Schieles Schwester Gerti.
Das Faible für Sonnenblumen könnte Egon Schiele – wie Gustav Klimt – von Vincent van Gogh abgeschaut haben. Von diesem seien in Wien 1907 zum ersten Mal 45 Gemälde ausgestellt gewesen, schilderte Franz Smola, Kurator im Belvedere. Nicht sicher, doch wahrscheinlich seien van Goghs Sonnenblumen dabei gewesen. „Das könnte erklären, warum Klimt und Schiele plötzlich so gerne Sonnenblumen malen.“
Nach Angaben von Michael Kiehn, Direktor des Botanischen Gartens der Universität Wien, stammt die Sonnenblume aus der Neuen Welt; als Spanier sie 1552 nach Europa gebracht hatten, war sie zunächst bloß Zierpflanze in vielen herrschaftlichen und aristokratischen Gärten, bevor sie ab dem 17. Jahrhundert zur Nutzpflanze werden sollte. Als Zierde, und zwar schon vor der Van-Gogh-Ausstellung, sei sie auch im Wiener Jugendstil im Einsatz gewesen, erläuterte Franz Smola – etwa in Stoffund Tapeten-Designs von Kolo Moser oder im stilisierten Sonnenblumen-Dekor, das Joseph Maria Olbrich 1896/98 für die Stadtbahn-Stationen Otto Wagners – etwa jener auf dem Karlsplatz – erfunden hat.
Bei Egon Schiele hingegen war nichts Dekor. „Er hat in die Landschaft und in die Natur mit voller Intensität geschaut“, versichert Carl Aigner, Direktor des Museums Niederösterreich, der die Tagung konzipiert hat. „Schiele vermag wie kaum ein anderer das Phänomen Natur neu zu formulieren.“Er male nicht „paradiesische Natursehnsucht“, sondern Erschrecken. Seine Blumen- und Landschaftsbilder seien anthropomorph verwandelte Naturerfahrung.
Dies passt in die Gedankenwelt der Wiener Moderne, die der Philosoph Konrad Paul Liessmann erläuterte. Denken und Schaffen von Künstlern und Literaten sei damals um mehrere Begriffe gekreist – wie die von Friedrich Nietzsche favorisierte „Dekadenz“, wie die „Synästhesie“als Zusammenklang vielerlei Wahrnehmungen, wie der „Dilettantismus“als Absage an den Akademismus der Künste, wie „Modernität“als Zukunftsoffenheit, wie „Neurose“als Lebensgefühl, wie „Symbolismus“, der alles mit Bedeutung versehe und die Wirklichkeit deute, um sich vom Naturalismus zu befreien. Allerdings: „Natur als Natur kommt nicht vor; die hat niemanden interessiert“, stellt Liessmann fest. Die einstige Kunst thematisiere Natur nur, sofern diese zum „Spiegelbild unserer Seele“werde. Als „zentrale Kategorie“der damaligen Gedankenwelt nannte er „Tod, Verfall, Morbidezza“und als dessen „Kontra-Begriff“das Leben. Beide Momente würden in Egon Schieles Bildern sichtbar: „Da liegt der Schatten des Todes drüber.“
Egon Schieles Zitat „Ich bin alles zugleich, aber niemals werd’ ich alles zur gleichen Zeit tun“legte Christian Bauer auf dessen Naturund Menschenbilder um: Schiele habe entweder das eine oder das andere gemalt. Dies bestätigt Elisabeth Leopold: „Es gibt keine Landschaft mit Menschen, er braucht sie nicht, er spricht mit der Natur.“Allerdings weist die Witwe des Sammlers Rudolf Leopold, der Egon Schieles Werk entdeckt, berühmt gemacht und vieles erworben hat, auf zwei Ausnahmen hin – „zwei wunderbare große Gemälde, wo Menschen als Hintergrund die Natur haben“. Beide sind heute im Leopold Museum in Wien: „Die Eremiten“sowie „Entschwebend“.
Während Künstler bis dahin den Tod als Knochenmann gemalt hätten, habe Egon Schiele in „Entschwebend“eine andere Lösung gefunden: Er sehe sich selbst sterbend, sagte Elisabeth Leopold. „Das Gesicht mit großen Augen ist neugierig und ängstlich zugleich.“Die andere Welt ist eine als Fläche gemalte Wiese, also ein Oben und ein Unten zugleich. Und Elisabeth Leopold gesteht: Wie Michelangelo mit den berührenden Fingern das für sie ultimative Bild des Lebens geschaffen habe, so sei dies das ausdrucksstärkste Bild des Sterbens.
„Ich liebe den Tod und ich liebe das Leben“, schrieb Schiele im Gedicht „Ein Selbstbild“. Aus diesem und vier weiteren Gedichten wurde in Tulln eine Premiere: Erstmals wurden Schieles Gedichte vertont und am Samstag vom Komponisten Wolfram Wagner und vom Bariton Günter Haumer uraufgeführt.
„Ich bin Mensch, ich liebe den Tod und ich liebe das Leben.“Egon Schiele, Künstler