Vom Reishaufen in die Welt schauen
Ein paar Kinder, die auf der Festung erzählen, wie sie die Welt sehen, und ein paar Reishaufen in einer Kirche, mit denen die Welt in Zahlen angehäuft wird – in beiden Fällen werden bei der Sommerszene Herz und Hirn bewegt.
SALZBURG. Der Sturm kommt rasant. Und fast hätte der Sturm die Performance von Andy Field weggeblasen. Im Freien findet die nämlich statt, oben auf der Festung Hohensalzburg. Es geht um einen weiten, frischen Blick. Der Sturm, der dahinfegt, aber passt recht gut in Andy Fields Feldforschung. Denn ein paar Minuten nach dem Beginn erzählt eine Kinderstimme, die sagt, sie sei 99 Jahre alt, von einem Sturm, der sich nun gelegt habe, und man hört, dass jetzt alles wieder gut ist und dass die Menschen einander besser verstehen und überhaupt alles gut wird und gerechter und ehrlicher.
Da ist schnell klar: In dieser Erzählung geht es nicht um die Zeit nach einem Wettersturm. Es geht um einen nicht genauer definierten Untergang, um ein Ende der Welt, wie wir sie kennen und auf die man hinunterschaut von der Kuenburgbastei im Norden der Festung.
So geht, was der Brite Andy Field „Lookout“nennt. Acht Personen stehen da, jeder bekommt eine Bluetoothbox und stellt sich an einen bestimmten Punkt an der Wehrmauer. Und dann hört jeder für sich eine Kinderstimme, die davon erzählt, was man sieht, wenn man hinunterschaut über die Stadt. Schule. Grün. Fluss. Verkehr. Und man schaut und schaut und beginnt neue Gedanken über die Stadt, über eben diese Stadt fliegen zu lassen.
Dann steht die neunjährige Tendawa, die Stimme in meiner Box, leibhaftig neben mir, schaut mit einem Ferngucker in die Weite und beginnt zu erzählen, fragt nach Lieblingsplätzen, nach dem Lieblingsbuch, weil sie ja selbst gern liest. Das meiste, worüber wird reden, dreht sich aber um das Leben in der Stadt – und vor allem darum, wie das Leben in der Zukunft ausschauen soll (oder wird). Für all das gibt es zwar ein Skript, aber es bleibt in der halben Stunde, die das Fragen und Reden und Schauen dauert, viel Platz zur Improvisation.
Keinen Platz für Abweichung gibt es hingegen in der Kollegienkirche. Da wird gezählt und abgewogen bis aufs Gramm genau. Da häuft die britische Gruppe „Stan’s Cafe“auf weißen Papierunterlagen Reiskörner. Jedes Reiskorn ist ein Mensch. Und auf den Zetteln stehen Sätze wie „Menschen, die gegen den Brexit stimmten“, „Menschen, die bei McDonald’s arbeiten“, „Menschen, die täglich bei McDonald’s einkaufen“, „Besucher der Salzburger Festspiele“, „Mozarts Geschwister“... Simple Dinge, dich sich alle in Zahlen messen lassen.
Durch die unterschiedlich großen Reishaufen entsteht in „Of All The People In All The World“eine Welt-Landschaft. Aus trockenen Statistiken wird eine Hügellandschaft. Man schlendert zwischen Reishaufen und erblickt ganz leicht, wie die Verhältnisse auf der Welt fix zusammenhängen.
Der Blick von der Kuenburgbastei ändert sich im Lauf des Gesprächs mit Tendawa dauernd. Plötzlich sind da unten viel zu viele Autos und der Platz ist ziemlich eng, und irgendwo am Horizont bläst eine Fabrik ihren Rauch in den Himmel. Und gemeinsam mit Tendawa schaut man nicht mehr nur, sondern beginnt zu denken, wie alles auch ganz anders sein könnte. Dann geht Tendawa wieder, aber das Denken endet nicht. Ein Satz von Initiator Andy Field über sein Projekt hallt nach. Er möchte „an der Hoffnung festhalten, dass es einen Weg aus dem Sturm gibt, in dem wir uns befinden“. Donald Trump hat da per Twitter eben die G7 versenkt und immer noch fahren zu viele Autos in der Stadt. Das Wetter über der Festung aber war da wieder besser geworden.
Bei „Of All The People In All The World“und „Lookout“geht es um Kunstprojekte, die es mit verhältnismäßig wenig Mitteln schaffen, Herz und Hirn in Bewegung zu bringen. Auf der Festung und in der Kirche ereignet sich Kunst, die etwas will, dem sich nur Unvernünftige und Gefangene irgendwelcher Ideologien widersetzen. Es geht um eine Kunst, die einen realistischen, wahrhaftigen Blick auf die Gegenwart verbindet mit der Zuversicht, dass aus diesem Blick auch die richtigen Schlüsse gezogen werden können, um die Welt besser zu machen. Das passiert aber nicht mit dem Vorschlaghammer. Es passiert mit ganz feiner Klinge, mit dem Lachen und den Fragen eines Kindes und durch die raffinierte Anhäufung von fünf Tonnen Reis.
Beide Projekte touren schon seit längerer Zeit durch die Welt. „Stan’s Cafe“hatten ihre Premiere schon vor 15 Jahren und waren seither in rund 60 Staaten zu Gast. Andy Field gestaltete „Lookout“erstmals 2015 in Glasgow und war seither in zahlreichen Städten zu Gast. Bei der Sommerszene hatten beide Projekte am vergangenen Wochenende ihre Österreich-Premiere und werden diese Woche noch zu sehen sein. Zeit war’s.