Wenn alte Menschen unter Gewalt leiden
Die meisten Senioren wollen daheim gepflegt werden. Warum sie dabei zu Opfern werden können.
SALZBURG. Eine bettlägerige 90-jährige Frau stirbt. Sie soll in ihrer häuslichen Pflege so schwer vernachlässigt worden sein, dass sie von Maden befallen war. Der Fall löste in Österreich im Jahr 2016 Entsetzen aus. Dabei sind ältere Menschen in der Pflege daheim nicht nur körperlicher Gewalt ausgesetzt, sondern auch seelischer oder sexueller, sie werden finanziell ausgebeutet oder in ihrem freien Willen eingeschränkt. Wie viele Menschen in Österreich betroffen sind, ist unklar. Josef Hörl, Soziologe an der Universität Wien, erklärt, für Österreich gebe es keine konkreten Zahlen zu Gewalt in der häuslichen Pflege. Er verweist auf eine heuer veröffentlichte Studie aus Spanien, in der rund 33 Prozent der pflegenden Angehörigen angaben, zumindest manchmal Gewalt auszuüben.
Seit 2006 erinnert der Welttag gegen die Misshandlung älterer Menschen am heutigen 15. Juni an die Lebensbedingungen der Betroffenen. So soll das Bewusstsein für Probleme geschärft und auf Hilfsangebote hingewiesen werden.
In Österreich werden 84 von 100 Pflegebedürftigen zu Hause betreut, nur 31 Prozent bekommen Unterstützung durch mobile Dienste und fünf Prozent haben eine 24Stunden-Pflege daheim. Insgesamt sind österreichweit mehr als eine Million Menschen – Pflegebedürftige und Pflegende eingerechnet – mit dem Thema konfrontiert. Und die Zahl wird steigen: Lebten im Jahr 2016 noch 432.560 Menschen in Österreich, die älter waren als 80 Jahre, gehen Prognosen davon aus, dass die Zahl bis 2060 auf mehr als 1,2 Millionen steigen wird.
Die deutsche Psychotherapeutin und Ethnologin Gerda Blechner (81) weist im SN-Gespräch darauf hin, dass laut Weltgesundheitsorganisation ( WHO) 20 Prozent aller Misshandlungen in Altersheimen vorkommen und 80 Prozent in der häuslichen Pflege. Der Großteil falle unter psychische Misshandlungen. Aber die sei leicht wegzureden. „Jeder weiß aus dem Alltag, dass Worte verletzen können. Betrifft es aber alte Menschen, ist das komischerweise nicht so.“
Blechner hat sich in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Von wegen Überforderung als Grund für Misshandlung von Pflegebedürftigen“(Manuela-Kinzl-Verlag) mit dem Thema auseinandergesetzt. Gewalt habe viele Gesichter. Hauptgrund seien konfliktbehaftete Beziehungen, Süchte oder psychische Instabilität. Auch gehe es dabei häufig um Macht. „Es liegt in der Natur der Sache, dass der, der pflegt, mächtiger ist als jener, der gepflegt wird. Wenn jemand nicht mit Macht umgehen kann, ist Misshandlung schnell passiert.“Zudem fühlten sich viele verpflichtet, Angehörige zu pflegen – aus gesellschaftlichen oder religiösen Gründen. „Aber jede Form von Verpflichtung ist schlecht“, erklärt die 81-Jährige.
In ihrem Buch schildert Blechner viele Beispiele, die sie selbst erhoben hat. Wie jenes von Annemarie, die sich um ihren erblindeten Vater kümmert. Er prügelte seine Kinder. Jetzt zahlt sie es ihm heim. Sie schlägt ihn oder stellt ihm absichtlich Hindernisse in den Weg.
Blechner will mit ihrem Buch sensibilisieren und Bewusstsein schaffen. Sie rät Senioren, sich frühzeitig mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Denn jeder kann ganz schnell ein Pflegefall werden.“Pflegenden rät die Psychotherapeutin, sich Auszeiten zu nehmen. „Sie sollten alle Angebote in Anspruch nehmen, die es gibt. In der Zeit können sie tun, was ihnen Spaß macht.“ SN-Info: In Österreich bietet der Verein Pro Senectute ein Beratungstelefon zum Thema Gewalt und Alter unter der Nummer 0699/ 11 2000 99 an. Betroffene, Angehörige, Professionisten, „Jeder kann anonym anrufen“, betont Vorsitzende Wilma Steinbacher.