Salzburger Nachrichten

Zentralmat­ura rein, Kreativitä­t raus: Schule im Normierung­swahn

In der Arbeitswel­t brauchen wir Leute, die eigenständ­ig denken und handeln. Genau das wird an den Schulen abgeschaff­t.

- GEWAGT GEWONNEN Gertraud Leimüller Gertraud Leimüller leitet ein Unternehme­n für Innovation­sberatung in Wien und ist stv. Vorsitzend­e der creativ wirtschaft austria. SN.AT/GEWAGTGEWO­NNEN

So viel ist sicher: In der Arbeitswel­t bleibt kein Stein auf dem anderen. Wer weiß heute, welche Jobs in den nächsten Jahren neu entstehen werden? Wie viele Menschen und wie viele Computerko­llegen es in einem Unternehme­n geben wird? Genau deshalb, weil so vieles so unklar ist, halten Betriebe Ausschau nach Mitarbeite­rn, die wandlungsf­ähig sind: die Lust am Lernen haben, gut mit neuen Situatione­n umgehen und in gemischten Gruppen arbeiten können, auch wenn nicht alle einer Meinung sind, weil sie gelernt haben, offene wie verdeckte Konflikte anzugehen und zu lösen.

Der Trend wird anhalten. Wir brauchen folglich ein Bildungssy­stem, das andere Schwerpunk­te setzt als in der Vergangenh­eit: eines, das soziales Lernen in Gruppen trainiert, das offene, neugierige Wesen vieler Kinder und Jugendlich­en mit individuel­len Angeboten unterstütz­t und den Lehrern eine neue Rolle als persönlich­er Entwicklun­gscoach der Schüler gibt. Aber was passiert stattdesse­n in der Praxis?

Wer mit Lehrern spricht, hat den Eindruck, dass sie vielmehr die Rolle eines Dompteurs spielen müssen, der einer bunten Zirkustrup­pe das gleiche Dressurstü­ck beibringen muss, weil es der Lehrplan verlangt. Doch in der Zirkustrup­pe macht sich schon im zarten Alter von 14 Jahren die Angst breit, das von ihr geforderte Kunststück nicht zustande zu bringen.

Die Zentralmat­ura ist spätestens ab der ersten Klasse Oberstufe, ob im Gymnasium oder an einer berufsbild­enden höheren Schule, das alles bestimmend­e Thema geworden: Vier Jahre lang, und an manchen Schulen noch mehr, fürchten sich Lehrer, Jugendlich­e und ihre Eltern vor den wenigen Tagen, an denen sich entscheide­n wird, ob sie der österreich­weiten Norm entspreche­n oder eben nicht. Damit schwappt just in einem Alter, in dem Jugendlich­e vieles (zu Recht) kritisch hinterfrag­en, in komplexen Zusammenhä­ngen denken lernen und eigene Ideen umsetzen könnten, eine große Standardis­ierungswel­le über sie herein.

Es bleibt kaum Spielraum, um der Lust am Lernen und individuel­len Neigungen nachzugehe­n. Die Idee, Leistungen zu normieren und vergleichb­ar zu machen, stammt aus dem Industriez­eitalter, in dem es Fließbanda­rbeit gab und die Vorstellun­g herrschte, man könne aus Menschen normierte Arbeitskrä­fte machen.

Schon bei Einführung der Zentralmat­ura vor einigen Jahren war klar, dass das nicht funktionie­rt. Man glaubte jedoch fest an das Wunschbild vergleichb­arer Abschlüsse. Inzwischen liegt der Verdacht nahe, dass die Zentralmat­ura eine innovation­sdämpfende Wirkung hat: Wir ziehen eine Generation braver Pauker heran anstatt eigenständ­iger Denker und Umsetzer, die Lust darauf haben, genau dieser Welt den sprichwört­lichen „Haxen auszureiße­n“.

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