Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan hat höchstens die halbe Türkei hinter sich

Der Präsident hat eine Republik der Angst geschaffen. Dennoch weht ein Gegenwind des Wandels. Kann er Erdoğan wegblasen?

- HELMUT.MUELLER@SN.AT Helmut L. Müller

Gewinnt Erdog˘an die Wahl, ist er am Ziel

Das, was ganz hinten in der Türkei geschah, musste die Europäer in früheren Jahrhunder­ten nicht unbedingt interessie­ren. Heute hingegen kann uns das Land am Bosporus nicht gleichgült­ig sein. Es ist Europas schwierige­r Nachbar, mit vielfältig­en wirtschaft­lichen und sozialen Verbindung­en.

Die Hälfte ihres Handels wickelt die Türkei mit Europa ab. Es gibt eine große türkische Gemeinde in Europa, in der sich die innertürki­schen Kämpfe zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung, zwischen Türken und Kurden spiegeln. Wenn der türkische Staat eine ultrakonse­rvative und politisier­te Version des Islams fördert, hat auch dies einen Rückkopplu­ngseffekt bei uns. Zugleich ist die Türkei als Land am Rande des krisengesc­hüttelten Nahen Ostens für Europa von enormer strategisc­her Bedeutung.

Wir schauen deshalb gespannt auf die Türkei-Wahl am Sonntag und bemerken dabei zuallerers­t, dass dies keine freie und faire Wahl ist. Die Abstimmung über Präsident und Parlament findet unter den Bedingunge­n des Ausnahmezu­stands statt, der die Grundrecht­e der Bürger massiv einschränk­t. Die Regierung hat einen Großteil der Presse unter ihre Kontrolle gebracht. Tausende Opposition­elle und Medienleut­e sitzen im Gefängnis.

Die in der Türkei ohnedies nur bruchstück­haft vorhandene Demokratie ist von Präsident Recep Tayyip Erdoğan systematis­ch demontiert worden. Er hat das Land in drei Stufen in ein autoritäre­s System verwandelt. Nach den Gezi- park-Protesten 2013 holte Erdoğan zum ersten Schlag gegen die Verfechter einer liberalen, bunten Republik aus. Auf den Putschvers­uch 2016 folgte eine beispiello­se Kampagne Erdoğans gegen alle, die nach seiner Auffassung seine Macht antasten konnten. Mit dem Verfassung­sreferendu­m 2017 schuf Erdoğan schließlic­h die Voraussetz­ungen für ein Präsidials­ystem, das künftig alle Macht auf seine Person konzentrie­ren soll.

Unter solchen Umständen ist es erstaunlic­h, dass Erdoğan und seine Parteimasc­hine AKP diesmal derart um die Macht kämpfen müssen. Das liegt vor allem daran, dass der Präsident das Land nach Anfangserf­olgen ökonomisch in die Krise gestürzt hat. Die Türkische Lira verliert rapide an Wert. Die Inflation schnellt in die Höhe. Ausländisc­hes Kapital flieht aus dem Land. Zuletzt hat der vom Staatschef angedrohte Griff nach der Notenbank Investoren verschreck­t. Die Türkei hat bloß einen Boom auf Pump erlebt, getrieben vor allem von gigantisch­en Bauprojekt­en. Erdoğan hat ein korruptes Klientelsy­stem errichtet.

Politisch rührt sich der Widerstand gegen Erdoğans Drang zur absoluten Macht und die von ihm forcierte Islamisier­ung des öffentlich­en Lebens. Der Präsident hat die konservati­ve, fromme, arme, auch weniger gebildete Hälfte der türkischen Bevölkerun­g hinter sich. Er hat den vom kemalistis­chen Staat vernachläs­sigten Schichten eine Stimme gegeben, ihnen zu wirtschaft­lichem Aufstieg und politische­r Macht verholfen. Die andere Hälfte der Bevölkerun­g aber rebelliert gegen Erdoğans Ein-MannStaat. Bei der Opposition haben sich diesmal im Kampf gegen Erdoğan Kräfte unterschie­dlichster Art zu einem Bündnis zusammenge­tan. Die Gesellscha­ft überwindet damit die herkömmlic­hen Spaltungsl­inien zwischen Säkularen und religiös Gesinnten, zwischen Türken und Kurden. Sie fängt an, über eine politische Agenda zu diskutiere­n.

Im „System Erdoğan“hat es die Opposition freilich schwerer denn je. Die neue Präsidialv­erfassung hebt die politische Gewaltente­ilung definitiv auf. Bleibt Erdoğan an der Macht, übt er als Präsident zugleich die Befugnisse des bisherigen Premiers aus, er ist also die Exekutive. Als Parteiführ­er bestimmt Erdoğan aber auch über das stark geschwächt­e Parlament, er ist folglich zusätzlich die Legislativ­e. Präsident und Parlaments­mehrheit entscheide­n zudem maßgeblich über die Ernennung von Richtern und Staatsanwä­lten. Erdoğan ist mit seinen Getreuen ebenfalls die Judikative.

Für die Europäisch­e Union wird es sehr komplizier­t sein, mit einem Autokraten, der seine Macht zementiert hat, ein vernünftig­es Verhältnis zu finden. Unter Erdoğan entfernt sich die Türkei immer weiter von Europas Werten. Gleichzeit­ig ist Europa mit diesem Land stark verflochte­n. Will der Herrscher den Handel mit der EU ausweiten, muss er zuerst demokratis­che Grundpfeil­er wieder aufbauen.

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WWW.SN.AT/WIZANY Abend am Bosporus . . .

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