Erdo˘gan hat höchstens die halbe Türkei hinter sich
Der Präsident hat eine Republik der Angst geschaffen. Dennoch weht ein Gegenwind des Wandels. Kann er Erdoğan wegblasen?
Gewinnt Erdog˘an die Wahl, ist er am Ziel
Das, was ganz hinten in der Türkei geschah, musste die Europäer in früheren Jahrhunderten nicht unbedingt interessieren. Heute hingegen kann uns das Land am Bosporus nicht gleichgültig sein. Es ist Europas schwieriger Nachbar, mit vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen.
Die Hälfte ihres Handels wickelt die Türkei mit Europa ab. Es gibt eine große türkische Gemeinde in Europa, in der sich die innertürkischen Kämpfe zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung, zwischen Türken und Kurden spiegeln. Wenn der türkische Staat eine ultrakonservative und politisierte Version des Islams fördert, hat auch dies einen Rückkopplungseffekt bei uns. Zugleich ist die Türkei als Land am Rande des krisengeschüttelten Nahen Ostens für Europa von enormer strategischer Bedeutung.
Wir schauen deshalb gespannt auf die Türkei-Wahl am Sonntag und bemerken dabei zuallererst, dass dies keine freie und faire Wahl ist. Die Abstimmung über Präsident und Parlament findet unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt, der die Grundrechte der Bürger massiv einschränkt. Die Regierung hat einen Großteil der Presse unter ihre Kontrolle gebracht. Tausende Oppositionelle und Medienleute sitzen im Gefängnis.
Die in der Türkei ohnedies nur bruchstückhaft vorhandene Demokratie ist von Präsident Recep Tayyip Erdoğan systematisch demontiert worden. Er hat das Land in drei Stufen in ein autoritäres System verwandelt. Nach den Gezi- park-Protesten 2013 holte Erdoğan zum ersten Schlag gegen die Verfechter einer liberalen, bunten Republik aus. Auf den Putschversuch 2016 folgte eine beispiellose Kampagne Erdoğans gegen alle, die nach seiner Auffassung seine Macht antasten konnten. Mit dem Verfassungsreferendum 2017 schuf Erdoğan schließlich die Voraussetzungen für ein Präsidialsystem, das künftig alle Macht auf seine Person konzentrieren soll.
Unter solchen Umständen ist es erstaunlich, dass Erdoğan und seine Parteimaschine AKP diesmal derart um die Macht kämpfen müssen. Das liegt vor allem daran, dass der Präsident das Land nach Anfangserfolgen ökonomisch in die Krise gestürzt hat. Die Türkische Lira verliert rapide an Wert. Die Inflation schnellt in die Höhe. Ausländisches Kapital flieht aus dem Land. Zuletzt hat der vom Staatschef angedrohte Griff nach der Notenbank Investoren verschreckt. Die Türkei hat bloß einen Boom auf Pump erlebt, getrieben vor allem von gigantischen Bauprojekten. Erdoğan hat ein korruptes Klientelsystem errichtet.
Politisch rührt sich der Widerstand gegen Erdoğans Drang zur absoluten Macht und die von ihm forcierte Islamisierung des öffentlichen Lebens. Der Präsident hat die konservative, fromme, arme, auch weniger gebildete Hälfte der türkischen Bevölkerung hinter sich. Er hat den vom kemalistischen Staat vernachlässigten Schichten eine Stimme gegeben, ihnen zu wirtschaftlichem Aufstieg und politischer Macht verholfen. Die andere Hälfte der Bevölkerung aber rebelliert gegen Erdoğans Ein-MannStaat. Bei der Opposition haben sich diesmal im Kampf gegen Erdoğan Kräfte unterschiedlichster Art zu einem Bündnis zusammengetan. Die Gesellschaft überwindet damit die herkömmlichen Spaltungslinien zwischen Säkularen und religiös Gesinnten, zwischen Türken und Kurden. Sie fängt an, über eine politische Agenda zu diskutieren.
Im „System Erdoğan“hat es die Opposition freilich schwerer denn je. Die neue Präsidialverfassung hebt die politische Gewaltenteilung definitiv auf. Bleibt Erdoğan an der Macht, übt er als Präsident zugleich die Befugnisse des bisherigen Premiers aus, er ist also die Exekutive. Als Parteiführer bestimmt Erdoğan aber auch über das stark geschwächte Parlament, er ist folglich zusätzlich die Legislative. Präsident und Parlamentsmehrheit entscheiden zudem maßgeblich über die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten. Erdoğan ist mit seinen Getreuen ebenfalls die Judikative.
Für die Europäische Union wird es sehr kompliziert sein, mit einem Autokraten, der seine Macht zementiert hat, ein vernünftiges Verhältnis zu finden. Unter Erdoğan entfernt sich die Türkei immer weiter von Europas Werten. Gleichzeitig ist Europa mit diesem Land stark verflochten. Will der Herrscher den Handel mit der EU ausweiten, muss er zuerst demokratische Grundpfeiler wieder aufbauen.