Auf der Suche nach Individualität
Fußballer Lionel Messi ist ein Riesentalent. Das meint auch Fußball-Fan und Genetiker Markus Hengstschläger. Dennoch sieht er das kritisch.
Die Individualität schrumpft da zusammen, wo die Gesellschaft sagt, ich sage, was zurzeit cool, modern und lässig ist. Markus Hengstschläger, Genetiker
Beim Spiel Mikado hat verloren, wer ein Staberl bewegt. In der Wirtschaft läuft es umgekehrt, die Unbeweglichen verlieren. Hingegen seien Flexibilität und Individualität die Maße der Zukunft, sagt Genetiker Markus Hengstschläger.
SN: Alle reden von Innovation, viele können es nicht mehr hören. Warum ist das möglicherweise für den Wirtschaftsstandort gefährlich?
Hengstschläger: Mein Modell ist eine Mischung aus Sicherheitsfaktoren und Individualität beziehungsweise Innovation. Wenn ich meine zwei Zukünfte, die vorhersehbare und die unvorhersehbare, definiere, dann gehe ich von Yes-or-yes-Projekten und Yesor-no-Projekten aus. Bei Yes-or-yes-Projekten weiß ich, was herauskommt. Bei Yes-orno-Projekten weiß man das nicht. Auch nicht, ob überhaupt etwas dabei herauskommt. Die Wirtschaft muss sich die Frage stellen, ob sie es sich leisten kann, zu 100 Prozent Yes-or-no-Projekte zu machen. Denn wenn man Pech hat, ist man in drei Jahren vom Markt. Aber ausschließlich Yesor-yes-Projekte zu fahren, ist selbst bei bester Auftragslage gefährlich. Denken Sie an Nokia. Eine kleine disruptive Idee kann dazu führen, vom Markt geblasen zu werden.
SN: Wie findet man die Balance?
Manager müssen den für das Unternehmen richtigen Prozentsatz zwischen Flexibilität und Sicherheit bestimmen. Als die Zukunft noch langsamer auf uns zugekommen ist, haben wir alle paar Jahre geschaut, wie hoch der Prozentsatz von Forschung und Entwicklung im Unternehmen im Vergleich zum sicheren Geschäft ist. Heute muss man öfter schauen, ob dieser Prozentsatz noch korrekt ist. Der Mix zwischen Sicherheit und Flexibilität hängt zum Beispiel von der Konkurrenz, der Auftragslage oder der Kapitalsituation ab.
SN: Gerade Mittelständler sind derart mit dem Alltagsgeschäft beschäftigt, dass sie keine Zeit für allzu viel Neues haben.
Keine Zeit für Risikoprojekte, Forschung und Entwicklung zu haben ist unglaublich gefährlich. Wenn man sagt, es läuft ohnehin gut, da fange ich mir nichts Neues an, bin ich schon im Risiko, mit Vollgas auf die Klippe zuzufahren. Denn es gibt immer irgendwo irgendjemanden, der nachdenkt und disruptiv agieren will. Innovation muss sich jeder leisten.
SN: Für Flexibilität und Individualität braucht es auch die richtigen Leute. Sie sagen, die meisten rotten sich auf dem Spielfeld in der Mitte zusammen, dort wo keine Bälle hinfliegen. Wie komme ich zu Menschen, die sich frei im Raum bewegen? Man kann die Frage zuspitzen und sagen, wie kommen die Unternehmen dazu, ein fehlendes Bildungskonzept auszugleichen? Übrigens haben Länder, die bessere Bildungskonzepte haben, wahrscheinlicher Arbeitnehmer, die mehr Flexibilität zeigen, extra Meilen machen und mehr Risiko nehmen. Bei uns heißt es gewissermaßen, die Wirtschaft soll das lösen. Aber das Bildungssystem bietet dafür nicht immer die Versorgungskette. Wir haben das Problem, dass wir den Talentebegriff wahllos, zeitabhängig und diskriminierend verwenden. Damit ist zwar jemand marktkonform, aber nicht innovationskonform. Wenn Sie heute sagen, ein Fußballspieler ist ein Riesentalent, weil er in der Champions League spielt, wird jeder zustimmen. Wenn ich sage, eine Kollegin hat bei mir studiert, ich halte sie für ein Riesentalent, dann fragen Sie, wieso, worin ist sie ein Talent? Woran messen wir bei der Jugend, die wir fürs Berufsleben vorbereiten, den Talentebegriff? Daran, was er oder sie verdient, wie oft er oder sie in der Zeitung steht? Das sind keine Kriterien. Und da frage ich, was trägt Lionel Messi mehr zur Lösung der Probleme der Zukunft bei? Ein Mensch, der bereit ist, es kann und will, ein Leben lang andere Menschen zu pflegen, ist mindestens so ein Talent wie ein Fußballspieler. Und plötzlich haben Sie die Individualität. Die Individualität schrumpft da zusammen, wo die Gesellschaft sagt, ich sage, was zurzeit cool, modern und lässig ist. Wer etwas anderes macht, bekommt dann auch nicht das Ansehen und das Gehalt. Wenn wir das auf fünf, sechs Modelle zuspitzen und sagen, wenn du da dabei bist, dann bist du ein Talent, dann haben wir ein Problem. Wir haben daher Handwerksberufe, die „in“sind – und andere bekommen keine Leute.
SN: Warum fordern Sie Talentscouts nicht nur in Schulen, sondern auch in Betrieben?
Warum ist denn Real Madrid so erfolgreich? Wegen Scouting, Scouting, Scouting. Ich habe ein paar Hundert Studentinnen und Studenten in der Vorlesung – mich interessiert einerseits: Die sollen alle eine fundierte Grundausbildung bekommen. Aber ich will auch ein paar gute Wissenschafterinnen haben – die muss man scouten.
SN: Und die finden Sie wie?
In der Genetik kann ich das. Aber ich kann es nur dort. Natürlich habe ich keine 100prozentige Trefferquote. Aber wenn das Unternehmen das Scouting für seinen Bedarf nicht erledigen kann, hat es ein Problem. Übrigens haben die Medien die Möglichkeit, in der nächsten Generation Motivationen zu schaffen. Die jungen Menschen stehen nicht in der Früh auf und sagen, es ist cool, Ofenbauer zu werden. Hier hätten Medien eine Vermittlungsfunktion. Aber wir sehen soeben eine sich monotonisierende Medienwelt. Wenn Facebook & Co. sagen, wir brauchen etwas nicht, dann ist es weg. Individualisierung ist das keine. Ich möchte kein Facebook-Bashing betreiben, aber ich sehe hier eine ernste Gefahr, weil die Individualität geschwächt wird.
SN: Bei der Lehre dürfte das gelungen sein, die zählt heute wieder etwas.
Ja, aber haben wir die Individualität, die wir brauchen? Ich höre derzeit nur, wir brauchen MINT, MINT, MINT (Anm.: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Ich verstehe nicht, wie das immer so schnell gehen kann, dass man sagt, diese Berufe brauchen wir nicht – und ein halbes Jahr später herrscht Mangel. Damit wird viel Politik gemacht. Auch mit Fußballern wie Messi. Ich bin ein großer Fan von Fußball. Aber die Sinnhaftigkeit beim Messi-Kult kann man hinterfragen. Aber das traut sich niemand. Bei der globalen Erwärmung wird uns Messi jedenfalls nicht helfen.
SN: Zählt nicht vielmehr der Fleiß und weniger das individuelle Talent?
Was ein Talent ist, weiß man nicht so genau, aber jeder hat gewisse genetische Anlagen. Doch der Mensch ist nicht auf seine Gene reduziert, gerade nicht im Wirtschaftswesen. Das heißt, es gibt Anlagen. Wenn wir sie entdecken, müssen wir motivieren, harte Arbeit zu leisten, damit jemand etwas Besonderes daraus macht. Extra Meilen müssen gegangen werden. Aber Quantität hat nichts mit Innovation zu tun. Der eine ist bereit, sieben Tage die Woche rund um die Uhr im Labor zu sein und ist dabei gestresst und kann daher nur 50 Prozent seiner möglichen Leistung abrufen. Die andere ist, wenn sie da ist, zu 100 Prozent on top, sie ist entspannt. Ich sage, der mit den 50 Prozent hat nie 100 Prozent erreicht.
Markus Hengstschläger promovierte mit erst 24 Jahren und Auszeichnung zum Doktor der Genetik. Danach arbeitete er an der Yale University (USA), wurde mit 29 Jahren außerordentlicher Uni-Professor und mit 35 Jahren Uni-Professor. Er leitet das Institut für Medizinische Genetik an der Med-Uni Wien. Hengstschläger ist vielfach ausgezeichnet und Bestsellerautor. Unlängst sprach er auf Einladung von Raiffeisen Salzburg vor Unternehmern und Führungskräften zum Thema Flexibilität und Individualität als Baustein der Innovation.