In letzter Minute
ICHweiß jetzt, wie es einem Tormann bei der Fußball-WM geht, der beim Schuss eines gegnerischen Angreifers auf dem falschen Fuß erwischt wird. Mir ging es mit diesem Text so. Der Anruf meines Kollegen, ich müsse am nächsten Tag eine Kolumne abliefern, traf mich auch auf dem falschen Fuß. Ich war, um in der Fußballsprache zu bleiben, in die andere Ecke unterwegs – also mit meinen Gedanken ganz woanders. Er entschuldigte sich zwar für ein Missverständnis in der Terminplanung. Aber Kollegen können unerbittlich sein, vor allem, wenn sich auf ihrer Seite ein weißer Fleck auftut, der gefüllt werden muss. Also ließ er mich mit den aufmunternden Worten zurück: „Dir fällt schon etwas ein, da bin ich sicher.“
Ich dachte mir, der hat leicht reden. Aber nach einer kurzen Pause fand ich, er hat recht. Schließlich ist es unser Job, dass uns ab und zu etwas einfällt, mit dem wir unsere Leser hoffentlich gut unterhalten, und wenn es sein muss, dann eben auch in allerletzter Minute.
Dieser Text ist also gewissermaßen eine Last-Minute-Kolumne. Dabei bin ich eigentlich nicht der Typ Schreiber, der alles auf den letzten Drücker erledigt. Wenn es geht, habe ich lieber etwas Zeit, um über das nachzudenken, was ich zu Papier bringe. Andererseits habe ich im Hinterkopf, was Karl Kraus über unseren Berufsstand schrieb: „Der Journalist ist vom Termin angeregt. Er schreibt schlechter, wenn er Zeit hat.“
Heißt im Umkehrschluss … da muss ich jetzt den Beweis antreten. Es kommt mir zugute, dass das Erledigen von Dingen im letzten Moment im Trend liegt. So ist es etwa im Tourismus seit Jahren üblich, Kunden mit Last-Minute-Angeboten zu ködern. Meist scheitert es daran, dass man in letzter Minute keinen Urlaub bekommt. Aber der Kitzel, Geld zu sparen, treibt das Geschäft an.
Der Last-Minute-Trend führt uns zurück zur Fußball-WM. Früher war es den Deutschen vorbehalten, ein Spiel in den allerletzten Minuten zu entscheiden. Gegner sprachen dann von Glück, Anhänger von Willenskraft. Mittlerweile werden Last-Minute-Tore aber auch bei anderen Mannschaften zur Gewohnheit. Harry Kane rettete erst dieser Tage mit einem Tor in der 91. Minute den Sieg Englands gegen Tunesien.
Aus der Torschlusspanik, der Angst, Entscheidendes zu versäumen, wie etwa den Aufstieg in die nächste Runde, wird so die Torschusspanik. Das Zittern, ob es ein Team schafft, die Sache für sich zu entscheiden oder die Niederlage abzuwenden, führt dazu, dass es oft erst in der Nachspielzeit richtig interessant wird. Die Drohung „Das wird noch ein Nachspiel haben“wird damit zur Verheißung, dass das Beste zum Schluss kommt. So wie bei diesem Text, der ist nämlich hier zu Ende.