Salzburger Nachrichten

In letzter Minute

- Richard Wiens

ICHweiß jetzt, wie es einem Tormann bei der Fußball-WM geht, der beim Schuss eines gegnerisch­en Angreifers auf dem falschen Fuß erwischt wird. Mir ging es mit diesem Text so. Der Anruf meines Kollegen, ich müsse am nächsten Tag eine Kolumne abliefern, traf mich auch auf dem falschen Fuß. Ich war, um in der Fußballspr­ache zu bleiben, in die andere Ecke unterwegs – also mit meinen Gedanken ganz woanders. Er entschuldi­gte sich zwar für ein Missverstä­ndnis in der Terminplan­ung. Aber Kollegen können unerbittli­ch sein, vor allem, wenn sich auf ihrer Seite ein weißer Fleck auftut, der gefüllt werden muss. Also ließ er mich mit den aufmuntern­den Worten zurück: „Dir fällt schon etwas ein, da bin ich sicher.“

Ich dachte mir, der hat leicht reden. Aber nach einer kurzen Pause fand ich, er hat recht. Schließlic­h ist es unser Job, dass uns ab und zu etwas einfällt, mit dem wir unsere Leser hoffentlic­h gut unterhalte­n, und wenn es sein muss, dann eben auch in allerletzt­er Minute.

Dieser Text ist also gewisserma­ßen eine Last-Minute-Kolumne. Dabei bin ich eigentlich nicht der Typ Schreiber, der alles auf den letzten Drücker erledigt. Wenn es geht, habe ich lieber etwas Zeit, um über das nachzudenk­en, was ich zu Papier bringe. Anderersei­ts habe ich im Hinterkopf, was Karl Kraus über unseren Berufsstan­d schrieb: „Der Journalist ist vom Termin angeregt. Er schreibt schlechter, wenn er Zeit hat.“

Heißt im Umkehrschl­uss … da muss ich jetzt den Beweis antreten. Es kommt mir zugute, dass das Erledigen von Dingen im letzten Moment im Trend liegt. So ist es etwa im Tourismus seit Jahren üblich, Kunden mit Last-Minute-Angeboten zu ködern. Meist scheitert es daran, dass man in letzter Minute keinen Urlaub bekommt. Aber der Kitzel, Geld zu sparen, treibt das Geschäft an.

Der Last-Minute-Trend führt uns zurück zur Fußball-WM. Früher war es den Deutschen vorbehalte­n, ein Spiel in den allerletzt­en Minuten zu entscheide­n. Gegner sprachen dann von Glück, Anhänger von Willenskra­ft. Mittlerwei­le werden Last-Minute-Tore aber auch bei anderen Mannschaft­en zur Gewohnheit. Harry Kane rettete erst dieser Tage mit einem Tor in der 91. Minute den Sieg Englands gegen Tunesien.

Aus der Torschluss­panik, der Angst, Entscheide­ndes zu versäumen, wie etwa den Aufstieg in die nächste Runde, wird so die Torschussp­anik. Das Zittern, ob es ein Team schafft, die Sache für sich zu entscheide­n oder die Niederlage abzuwenden, führt dazu, dass es oft erst in der Nachspielz­eit richtig interessan­t wird. Die Drohung „Das wird noch ein Nachspiel haben“wird damit zur Verheißung, dass das Beste zum Schluss kommt. So wie bei diesem Text, der ist nämlich hier zu Ende.

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