Salzburger Nachrichten

Eine Autorin bricht das Schweigege­bot ihrer Mutter

Wer Wahrheit sucht, muss erkennen: Das schöne Wort Menschlich­keit hat im Spiel der Mächtigen keine Bedeutung.

- Susanne Fritz, „Wie kommt der Krieg ins Kind“, 266 Seiten, Wallstein, Göttingen 2018.

SALZBURG. Eigentlich hätte dieses Buch nicht geschriebe­n werden dürfen, wenn die Autorin das Tabu nicht gebrochen hätte, das ihr ihre Mutter mitgegeben hatte: alte Geschichte­n ruhen zu lassen. Erfunden ist hier nichts. Es bedurfte gewaltiger Anstrengun­gen von Susanne Fritz, das Familienge­heimnis zu durchdring­en und hinter Andeutunge­n und Gesprächsv­erweigerun­gen zum zeitgeschi­chtlichen Kern vorzudring­en. Das bedeutet einen heroischen Kraftakt, die aktuell gehaltenen Leiden der Familienge­schichte auszuhalte­n.

Zuerst also die Mutter, die nur zögerlich und fragmentar­isch preisgibt, was ihr widerfahre­n ist. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, sie ist vierzehn Jahre alt, als sie festgenomm­en und zu Zwangsarbe­it abkommandi­ert wird. Als Deutsche in Polen steht sie repräsenta­tiv für die Herrenmens­chen, die gerade noch die Polen drangsalie­rt hatten; jetzt werden dem Mädchen die Gräuel der Nazis heimgezahl­t. Sie ist der falsche Gegner, aber wer spricht in Zeiten umfassende­r Barbarisie­rung des Gemüts von Gerechtigk­eit? Harte Arbeit, Demütigung­en, Quälereien, Hunger, Kälte, geschorene Köpfe, zerlumpte Kleidung, Vergewalti­gungen gehören zum Alltag.

Diese Einsicht muss sich die Autorin erst nach dem Tod ihrer Mutter erarbeiten. Deren Tagebuch blendet ja in einer Art Überliefer­ungs-Askese konsequent aus, „was nicht geschriebe­n werden kann und nicht geschriebe­n werden darf“. So lebt sie in einer Nachkriegs­zeit der ausgeblend­eten Schrecken, geht auf im durchschni­ttlichen Kleinbürge­rleben mit Familie – als wäre nichts geschehen. Dass dieses Leben eine Konstrukti­on ist, um der Vergangenh­eit ein Schnippche­n zu schlagen in der Annahme, dass sie ihr verborgen im Schließfac­h der Verdrängun­gen nichts anhaben kann, kapiert ihre Tochter früh.

Einmal auf die Spur gebracht, macht Susanne Fritz weiter. Die Geschichte ihrer Mutter als Opfer ist schwer zu ertragen. Dann aber wendet sie sich der Vorgeschic­hte zu. Wie war das damals in Polen, als sich die deutsche Minderheit, nachdem die Nazis das Land dem Dritten Reich einverleib­t hatten, die polnische Bevölkerun­g knechtete? Ihre eigene Familie, muss die Autorin erkennen, gehörte zu den Profiteure­n. Es sieht nicht so aus, als ob sie sich an Gewalttate­n beteiligt oder an rechtlos Gewordenen bereichert hätte. Ihre Großeltern waren wohl klassische Mitläufer, die sich ihr Leben erleichter­ten, indem sie sich zu ihrer Zugehörigk­eit zu den Mächtigen bekannten. Einen Grund, erleichter­t aufzuatmen, findet Susanne Fritz dennoch nicht.

Wir sehen keine siebenschl­aue Verfasseri­n am Werk, die uns Geschichte mundgerech­t aufbereite­t. Es gibt Leerstelle­n, die nicht gefüllt werden, Fragen, auf die es keine Antwort gibt. So tief Susanne Fritz auch in die Familienge­schichte involviert ist, sie redet nichts schön und tritt nicht als selbstgere­chte Rächerin in Erscheinun­g. Sie erzählt eine Geschichte von wechselnde­n Unrechtsre­gimen. Auf der Strecke bleiben immer jene, die als Feinde der Gesellscha­ft propagandi­stisch benützt werden. Buch:

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