Eine Autorin bricht das Schweigegebot ihrer Mutter
Wer Wahrheit sucht, muss erkennen: Das schöne Wort Menschlichkeit hat im Spiel der Mächtigen keine Bedeutung.
SALZBURG. Eigentlich hätte dieses Buch nicht geschrieben werden dürfen, wenn die Autorin das Tabu nicht gebrochen hätte, das ihr ihre Mutter mitgegeben hatte: alte Geschichten ruhen zu lassen. Erfunden ist hier nichts. Es bedurfte gewaltiger Anstrengungen von Susanne Fritz, das Familiengeheimnis zu durchdringen und hinter Andeutungen und Gesprächsverweigerungen zum zeitgeschichtlichen Kern vorzudringen. Das bedeutet einen heroischen Kraftakt, die aktuell gehaltenen Leiden der Familiengeschichte auszuhalten.
Zuerst also die Mutter, die nur zögerlich und fragmentarisch preisgibt, was ihr widerfahren ist. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, sie ist vierzehn Jahre alt, als sie festgenommen und zu Zwangsarbeit abkommandiert wird. Als Deutsche in Polen steht sie repräsentativ für die Herrenmenschen, die gerade noch die Polen drangsaliert hatten; jetzt werden dem Mädchen die Gräuel der Nazis heimgezahlt. Sie ist der falsche Gegner, aber wer spricht in Zeiten umfassender Barbarisierung des Gemüts von Gerechtigkeit? Harte Arbeit, Demütigungen, Quälereien, Hunger, Kälte, geschorene Köpfe, zerlumpte Kleidung, Vergewaltigungen gehören zum Alltag.
Diese Einsicht muss sich die Autorin erst nach dem Tod ihrer Mutter erarbeiten. Deren Tagebuch blendet ja in einer Art Überlieferungs-Askese konsequent aus, „was nicht geschrieben werden kann und nicht geschrieben werden darf“. So lebt sie in einer Nachkriegszeit der ausgeblendeten Schrecken, geht auf im durchschnittlichen Kleinbürgerleben mit Familie – als wäre nichts geschehen. Dass dieses Leben eine Konstruktion ist, um der Vergangenheit ein Schnippchen zu schlagen in der Annahme, dass sie ihr verborgen im Schließfach der Verdrängungen nichts anhaben kann, kapiert ihre Tochter früh.
Einmal auf die Spur gebracht, macht Susanne Fritz weiter. Die Geschichte ihrer Mutter als Opfer ist schwer zu ertragen. Dann aber wendet sie sich der Vorgeschichte zu. Wie war das damals in Polen, als sich die deutsche Minderheit, nachdem die Nazis das Land dem Dritten Reich einverleibt hatten, die polnische Bevölkerung knechtete? Ihre eigene Familie, muss die Autorin erkennen, gehörte zu den Profiteuren. Es sieht nicht so aus, als ob sie sich an Gewalttaten beteiligt oder an rechtlos Gewordenen bereichert hätte. Ihre Großeltern waren wohl klassische Mitläufer, die sich ihr Leben erleichterten, indem sie sich zu ihrer Zugehörigkeit zu den Mächtigen bekannten. Einen Grund, erleichtert aufzuatmen, findet Susanne Fritz dennoch nicht.
Wir sehen keine siebenschlaue Verfasserin am Werk, die uns Geschichte mundgerecht aufbereitet. Es gibt Leerstellen, die nicht gefüllt werden, Fragen, auf die es keine Antwort gibt. So tief Susanne Fritz auch in die Familiengeschichte involviert ist, sie redet nichts schön und tritt nicht als selbstgerechte Rächerin in Erscheinung. Sie erzählt eine Geschichte von wechselnden Unrechtsregimen. Auf der Strecke bleiben immer jene, die als Feinde der Gesellschaft propagandistisch benützt werden. Buch: