Manche fliegen weg, manche bleiben
Wissenschafter können vorhersagen, welche Störche im Herbst nach Afrika ziehen und welche in Europa bleiben. Um das herauszufinden, erhielten die Störche ein Handy.
KONSTANZ. Es ist gerade Juni 2014. Für den kleinen Louis geschieht soeben der bisher aufregendste Tag seines Lebens: Sechs oder sieben Wochen zuvor hat der Jungstorch auf einer Birke in Radolfzell am Bodensee das Licht der Welt erblickt. Bisher kennt er lediglich seine Eltern und seine drei Geschwister.
Nun aber tauchen plötzlich noch nie gesehene Wesen am Horst auf und halten die vier kleinen Weißstörche fest. Es sind Andrea Flack und Wolfgang Fiedler vom MaxPlanck-Institut für Ornithologie und der Universität Konstanz.
Von Louis und anderen Jungstörchen werden die Wissenschafter in den kommenden Jahren lernen, dass Störche auf ihren Reisen in den Süden Artgenossen folgen, die besonders gut Thermiken ausnutzen und dadurch mit weniger Flügelschlägen auskommen.
Die effizienteren Flieger reisen bis nach Westafrika, während die übrigen in Südeuropa überwintern. Wer wohin fliegen wird, werden die Forscher dann schon zehn Minuten nach dem Abflug aus ihren Daten herauslesen können.
Ungefähr 60 Störche tragen kleine Sender auf ihrem Rücken. Damit wollen die Forscher den mittlerweile schon großen Louis und 60 weitere Jungstörche auf ihren Flügen begleiten. Die nur ein paar Dekagramm wiegenden Messgeräte zeichnen dabei die GPS-Koordinaten der Tiere auf. Außerdem messen die Sender selbst die kleinsten Bewegungen der Tiere mit Beschleunigungsmessern. So können die Forscher erkennen, ob und wie sich die Vögel bewegen.
Die Sender zeichnen zwei bis fünf Minuten lang jede Sekunde die GPS-Koordinaten der Tiere auf – und das alle 15 Minuten über Wochen hinweg. Ein Mal am Tag können die Geräte wie ein Mobiltelefon ein SMS mit dem Paket aus Ortsund Bewegungsdaten über das örtliche Mobilfunknetz verschicken.
Die Daten fließen automatisch in die Online-Datenbank Movebank ein – eine von Forschern um Martin Wikelski entwickelte, frei nutzbare Online-Plattform, mit der Wissenschafter überall auf der Erde Tierwanderungen dokumentieren können. Da die Störche rund um den Bodensee bis nach Westafrika zum Überwintern fliegen, wären bei solchen Datenmengen die Mobilfunkkosten enorm. Deshalb fährt Andrea Flack den Vögeln mit dem Auto bis nach Barcelona hinterher und ruft mit einer Basisstation ein Mal täglich die Daten ab.
Louis dürfte einer der Störche sein, die lieber im Süden Europas überwintern. Er hat Vorlieben für südspanische Mülldeponien. Im Frühjahr kehrt er in seine Heimat Deutschland zurück.
Noch nie haben Menschen den Gruppenflug der Störche so minutiös verfolgt wie den von Louis und seinen Altersgenossen. Die Ergebnisse von Louis’ Reise haben die Wissenschafter des Max-PlanckInstituts für Ornithologie und der Universität Konstanz nun veröffentlicht. Die Daten der tausend Kilometer langen Etappe zeigen erstmals, wie die Flugleistung eines Vogels, sein Sozialverhalten und seine globale Reiseroute miteinander verknüpft sind.
Eine detaillierte Auswertung der hochaufgelösten GPS-Daten beschreibt die Flugbahnen der Leitvögel genau. „Sie sind die, die die Thermikgebiete ausfindig machen und die geeignetsten Regionen innerhalb der Thermik suchen. Deshalb müssen sie ihre Bahnen immer wieder anpassen“, erklärt Máté Nagy, der die Daten der Sender analysiert hat. Die nachfolgenden Tiere profitieren dann von den Erfahrungen der Leitvögel und können sich in regelmäßigeren Bahnen nach oben schrauben. „Folgetiere sind etwas langsamer und verlieren schneller an Höhe. Um nicht den Anschluss an die Gruppe zu verlieren, müssen sie mehr mit den Flügeln schlagen und die Aufwindsäulen verlassen, noch bevor sie oben angekommen sind.“
Von den Flugfähigkeiten hängt aber nicht nur die Position innerhalb der Gruppe ab. Wie lange ein Storch im Segelflug dahingleiten kann, beeinflusst offenbar auch, wo er den Winter verbringen wird. Tiere, die viel mit den Flügeln schlagen, fliegen weniger weit als die, die Thermik besser ausnutzen können. Louis zum Beispiel ist ein eher mittelmäßiger Flieger. Daher begnügt er sich mit Südspanien, einer beliebten Überwinterungsregion für viele Deutsche.
Ganz anders Redrunner, ein anderes Mitglied der Gruppe, die im Frühjahr 2014 mit Sendern ausgestattet wurde. Er kommt mit weniger Flügelschlägen aus und gehört zu den Führungstieren seiner Gruppe. Sein Überwinterungsgebiet liegt in Nordafrika. Während Louis auf seiner Reise im Schnitt 1000 Kilometer zurücklegt, kommt Redrunner auf fast 4000 Kilometer.
Als heute Vierjährige haben beide Jungtiere die gefährlichste Phase in ihrem Leben überstanden, denn 75 Prozent der Jungvögel sterben im ersten Lebensjahr. Störche können 30 Jahre und älter werden.