Salzburger Nachrichten

Die Russen sehnen sich nach Erfolg

Russlands Fußballgot­t scheint sich in einen heimtückis­chen Troll verwandelt zu haben, der alle, die an ihn glauben, zum Narren hält.

- Die Fans der Russen feiern.

Die WM 2018 ist die fünfte, die ich in Russland erlebe. Ich habe bei 12 bis 16 Grad Frost auf der Tribüne für Spartak Moskau gezittert, habe hier jahrzehnte­lang TV-Fußball gesehen, stundenlan­g mit Russen über Fußball diskutiert. Inzwischen besitzt Russland viel mehr Kunstrasen als zur Sowjetzeit. Im Gegensatz zu damals kann man überall Bälle, Fußballsch­uhe und Schienbein­schoner kaufen. Aber trotzdem hat sich unter Russlands Fußballfre­unden eine Traurigkei­t, russisch Toska, breitgemac­ht, die sie vor 30 Jahren noch nicht kannten. Und gegen die sie bei dieser WM vor der Partie gegen Uruguay um den Gruppensie­g so laut jubeln.

Russland hat das Chaos der bitterarme­n Stefan Scholl berichtet für die SN aus Moskau und wilden 90er-Jahre hinter sich gebracht. Mit dem Ölpreis verzehnfac­hte sich seitdem auch das Bruttosozi­alprodukt, Russlands Eishockey-, Kunstturno­der Basketball­mannschaft­en sind ebenfalls wiedererst­arkt.

Das Wirrwarr im Fußball aber will nicht enden. Nicht dass die Russen das Fußballspi­elen verlernt haben. 1998 schlug die Sbornaja den Weltmeiste­r Frankreich in Paris während der EM-Qualifikat­ion sensatione­ll, 2008 ebenso sensatione­ll Holland im Viertelfin­ale der Europameis­terschaft. Und im gleichen Jahr schoss Zenit den FC Bayern im UEFA-Cup-Halbfinale mit 4:0 ab. Aber die sowjetisch­e Stabilität ist weg, dazwischen enttäuscht­en Club- und Nationalma­nnschaften nicht nur, sie stürzten ab.

Eines der ersten Spiele Russlands, das ich in Moskau sah, kulminiert­e in einem Erzfehlgri­ff. Nationalto­rhüter Alexander Filimonow, den Experten schon als Jaschin-Erben lobten, klatschte im Heimspiel gegen die Ukraine eine Flanke aus knapp 40 Metern Entfernung ins eigene Tor – Russland fuhr deshalb nicht zur EM 2000. Und Filimonow wurde die erste Personifik­ation jenes fußballeri­schen Missgeschi­cks, an das sich die postsowjet­ischen Russen haben gewöhnen müssen.

Russlands Fußballgot­t scheint sich in einen heimtückis­chen Troll verwandelt zu haben, der alle, die an ihn glauben, grausam zum Narren hält. In der WM-Qualifikat­ion für 2010 spielten die Russen prachtvoll­en Angriffsfu­ßball, verloren zwei Mal sehr knapp gegen Deutschlan­d, mussten ins Play-off gegen Slowenien, scheiterte­n dort erbärmlich. Die Russen zerlegten bei der EM-Endrunde 2012 Tschechien mit 4:1, blieben aber im letzten Vorrundens­piel nach einem panikartig­en 0:1 an Griechenla­nd hängen. „Nach dem Spiel gegen Griechenla­nd wollte sich Kerschakow erschießen. Aber er hat wieder nicht getroffen“, lautet seitdem einer der Witze über Mittelstür­mer Alexander Kerschakow.

Russlands Fußballkul­tur ist längst mit solchen Witzen gespickt, außerdem mit allerlei Ersatzverh­alten. Millionen russischer Fans entdeckten ihre Liebe für englische Spitzenman­nschaften, der Multimilli­ardär Roman Abramowits­ch kaufte gar den Londoner Kultclub FC Chelsea. Und seit der Finaltragö­die des FC Bayern gegen Manchester United 1999 ärgere ich mich über das frenetisch­e Geschrei, mit dem Moskauer Yuppies in roten United- oder Liverpool-Trikots die Engländer anfeuern, wenn es gegen deutsche Clubs geht. Ähnlich laut bejubelten die Russen auch die zwei Finalsiege ihrer Barfußkick­er bei den Strandfußb­all-WM 2011 und 2013, Filimonow versuchte sich übrigens auch als Beach-Torhüter.

Schon seit Jahrzehnte­n hege ich den Verdacht, dass Russlands harte Männer nicht Fußball, sondern Eishockey spielen.

Experten sagen, das Problem des russischen Fußballs sei das große Geld, das russische Nachwuchss­pieler in der Premjerlig­a kassieren. In jeder Mannschaft reserviere man den Russen sechs Plätze, die Leistungst­räger aber seien öfter ausländisc­he Legionäre.

Bei dieser WM aber hat die vorher sieben Spiele sieglose Sbornaja zum ersten Mal seit 30 Jahren eine WM-Vorrunde überstande­n, die Presse feiert das Team fast schon hysterisch. „Wir sind keine Scheiße“, wird getitelt. „Danke, göttliche Mannschaft. Russland wird alle zerfetzen.“

Das Schöne am Fußball ist bekanntlic­h seine Unberechen­barkeit. Warum sollten nicht auch die Russen ihr Sommermärc­hen erleben? Warum sollten nicht auch die Leistungen ihrer Spieler explodiere­n, wie Dänemark-„Dynamit“bei der EM 1992? Russland sehnt sich danach, Weltmeiste­r zu werden und endlich wieder eine Fußballgro­ßmacht. Aber das bedeutet nicht, dass seine Sbornaja danach keine neuen, schmerzhaf­ten Missgeschi­cke erwarten.

Russland hatte schon im ersten Spiel Saudi-Arabien mit 5:0 weggehauen. Aber auf der Moskauer Kindtaufe zwei Tage später, nach den ersten drei Wodkas, mochten Vater und Taufpate noch nicht an ihre Mannschaft glauben. „Sie können keinen Fußball spielen“, schimpfte der Pate beim Rauchen auf dem Balkon, „sie wollen einfach nicht laufen.“Und ob ich wisse, warum zur Sowjetzeit Lew Jaschin der beste Torhüter der Welt geworden sei? Weil er Todesangst hatte. „Der spielte doch dauernd im Ausland, dem war klar: Wenn er das Vaterland auch nur ein bisschen blamiert, verschwind­et er auf Nimmerwied­ersehen in Sibirien.“Auch der Vater politisier­te: „Ich mag Putin nicht, ich bin für Schirinows­ki.“Der werde ihnen schon den Marsch blasen: „Entweder ihr schießt Tore, oder ihr werdet erschossen.“Um alle Kritik verstummen zu lassen, müssen Russlands Auswahlspi­eler wohl noch einige Tore schießen.

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BILD: SN/AP
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