80.000 Internetsüchtige benötigen rasche Hilfe
Exzessives Online-Spielen gilt seit Kurzem als eigenständige Krankheit. Es ist wie jede Sucht nicht heilbar. Doch es gibt Möglichkeiten, sie in den Griff zu bekommen.
Ständig im Netz unterwegs sein, Freunde, Familie, Gesundheit, Arbeit und Schule vernachlässigen: Weltweit ist für immer mehr – nicht nur junge – Menschen das Internet zu einem eigenständigen Leben neben der Realität und zur Sucht geworden. „Allein in Österreich sind rund 10.000 Jugendliche zwischen zwölf und 16 Jahren akut gefährdet sowie 70.000 Frauen und Männer manifest internetsüchtig. Heilbar ist diese Sucht nicht, man kann nur lernen, damit umzugehen“, sagt der Ärztliche Leiter der Salzburger Suchthilfe-Kliniken, Hannes Bacher. In Deutschland sind rund 270.000 Jugendliche vom Internet abhängig. Diese Zahl hat sich in den vergangenen vier Jahren verdoppelt. Die Weltgesundheitsorganisation hat auf diese Entwicklungen reagiert und exzessives OnlineSpielen als eigene Suchtkrankheit klassifiziert. Diese Entscheidung hat eine Debatte ausgelöst: Kritiker glauben, dass damit zu viele Menschen als behandlungsbedürftig eingestuft würden. Die Fachleute der WHO sagen dagegen, es gebe klare Grenzen zwischen normalem Spielen und Spielsucht. Befürworter sehen den Vorteil darin, dass nun ein Bewusstsein für das Suchtpotenzial des Internets geschaffen wird und gefährdete Menschen rascher professionelle Hilfe bekommen. Sie machen auch darauf aufmerksam, dass eine Sucht nicht als Charakterfehler zu sehen ist.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Online-Sucht nun als eigenständige Krankheit ein. In ihrem Katalog der Krankheiten (ICD11) steht exzessives Online-Spielen unter anderen Suchtkrankheiten. Kritiker fürchten, dass Menschen, die sich viel im Internet bewegen, fälschlich als therapiebedürftig eingestuft werden könnten. Diesen Vorbehalt hat Hannes Bacher, Ärztlicher Leiter der Suchthilfe-Kliniken in Salzburg, mit einem Blick in seine Praxis nicht.
SN: Warum finden Sie, dass diese Einstufung sinnvoll ist?
Hannes Bacher: Wir haben in Österreich rund 10.000 Jugendliche zwischen zwölf und 16 Jahren, die akut gefährdet sind, und 70.000 Frauen und Männer, die manifest internetsüchtig sind. Ich glaube aber, dass noch wichtiger als die Weltgesundheitsorganisation die Gesellschaft selbst ist. Suchterkrankungen müssen endlich als Erkrankung wahrgenommen werden und nicht als Charakterschwäche, also als etwas, woran der Betroffene selbst schuld ist, wenn er es nicht in den Griff bekommt. Viele Menschen wissen nicht, dass es ein Suchtgedächtnis gibt, das – wenn es einmal aktiviert wird – ein Leben lang aktiv bleibt. Man kann also eine Sucht, und damit ist jede Sucht gemeint, nicht heilen. Man kann sie nur in den Hintergrund verbannen und lernen, damit umzugehen.
SN: Wie funktioniert dieses Suchtgedächtnis? Das lässt sich anhand des Alkohols gut erklären: Das Gehirn speichert Belohnungen und ihre Auslöser sofort. Das Gehirn lernt also, das Trinken mit einem guten Gefühl zu verbinden. Das geschieht über biochemische Prozesse. Durch den Alkohol kommt es im Gehirn zu einem Kick mit dem Hormon Dopamin, der das Lustzentrum anheizt. Auf Dauer verändert dieser Reiz die Gehirnstruktur. Es entstehen mehr Nervenzellen, die auf Alkohol ansprechen. Es bildet sich ein Suchtgedächtnis mit den dazu passenden Entzugserscheinungen. Diese Veränderung im Gehirn scheint stabil zu sein. Ob man ein Suchtgedächtnis löschen kann, wird erforscht.
Sucht geschieht in einem Suchtdreieck. Es kommt auf die Person, sein Umfeld und den Stoff an, an den sich die Sucht knüpft. Manche Menschen haben ein leichter zu aktivierendes Suchtgedächtnis als andere. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Sucht stoffgebunden ist, also ob Heroin, Alkohol, Zigaretten oder Beruhigungsmittel damit verbunden sind, oder ob die Sucht nicht stoffgebunden ist. Dazu zählen Spielsucht, Kaufsucht, Internetsucht, Eifersucht. Unterschiede gibt es nur in der Behandlung.
SN: Wie wird etwa die Internetsucht behandelt? Der Schwerpunkt liegt wie bei anderen nicht stoffgebundenen Süchten auf Analyse und Verhaltenstherapie. Der Ansatz ist die Suche nach den Ursachen der gestörten Impulskontrolle.
Betroffene zeigen ein zwanghaftes und nicht kontrollierbares Verhalten, das sie unter Anspannung an den Tag legen. Die jeweilige impulsiv ausgeführte Handlung führt zu einem kurzzeitigen Nachlassen der Anspannung. Diese Menschen sind nicht fähig, ihrem Impuls zu widerstehen.
In der Therapie lernt man also etwa, kontrolliert im Internet zu arbeiten, eine Stundenanzahl einzuhalten, das Gerät wegzulegen und auszuschalten. Wenn wir mit Jugendlichen arbeiten, werden auch die Eltern miteinbezogen. Sie haben im Übrigen auch juristisch die Verpflichtung, ihre Kinder zu unterstützen. Sie haben Anteil daran, das soziale Netz und die Außenwelt der Kinder zu stärken.
SN: Wie rutscht man in die Internetsucht? Man bekommt einen Computer oder ein Smartphone geschenkt und lernt durch die Werbung und Gleichaltrige Spiele kennen. Buben finden mehr Ego-Shooter-Spiele faszinierend, Mädchen bloggen gern und sind auf Facebook aktiv. Grundsätzlich ist das alles nicht schlecht, wenn es im Rahmen bleibt. Das Heimtückische daran ist aber, dass man in dieser Welt rasch Erfolgserlebnisse hat. In der Realität muss man hackeln, im Internet ist man Multimillionär und fühlt sich gut. Leute beginnen damit, sich von der Realität abzuschotten, die ja nicht immer positiv ist. Am Ende bewegen sie sich rund um die Uhr in der anderen Welt. Es gibt Patienten, die kaufen sich einen Leibstuhl, damit sie nicht einmal mehr aufs Klo gehen müssen. Internetsucht ist vergleichbar mit krankhaftem Spielen – die Betroffenen haben keine ausreichende Selbstkontrolle mehr und verlieren den Zeitbegriff. Die Folgen sind häufig soziale Isolation, Stimmungsschwankungen und Konzentrationsschwierigkeiten sowie eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Wir müssen also Schritt für Schritt Ziele setzen, um Betroffene wieder an die Realität anzubinden. Man baut Strukturen auf, die in der realen Welt liegen. Oft sind es ganz einfache Maßnahmen, wie etwa mit den Kindern draußen etwas zu unternehmen.
Hannes Bacher ist Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin und Arzt für Allgemeinmedizin sowie Ärztlicher Leiter der SuchthilfeKliniken in Salzburg. Wer Probleme mit einer Sucht hat, kann sich dorthin wenden.