Russland kommt in Kontakt
Russland wagt in den WM-Wochen einen geordneten Kontrollverlust. Manche nennen es eine gesamtgesellschaftliche Psychotherapie.
Die Moderatoren in einer russischen Talkshow geben sich einer gespielten Fassungslosigkeit hin. „Schau, sie freuen sich. Sie freuen sich mit uns“, sagt der eine. Sie, die Mexikaner, die Dänen, die Franzosen, die Deutschen, die Südkoreaner. „Ja, sogar die Briten!“Die Briten, die doch so russophob sein sollen, feiern mit den Russen zusammen die Siege der WM-Spiele. „Sie mit uns!“, wiederholt der andere. In den vergangenen vier Jahren, Jahren, in denen Russland seit der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion immer stärker eine Wagenburg-Mentalität zum Ausgangspunkt seiner Politik machte, hatten die Moderatoren es verinnerlicht, das „Wir“lobzupreisen und das „Sie“bloßzustellen, zuweilen zu ächten. Es ist die typische Abgrenzung, um sich seiner selbst zu vergewissern. Russlands Staatspropaganda hat diese schlichte Formel zu einem hohen Gut erhoben: „Wir“gegen den Rest der Welt.
Nun, in diesen fröhlichen Wochen der Fußball-Weltmeisterschaft, dieser Zeit eines geordneten Kontrollverlusts trifft das selbstbewusste und doch so unsichere „Wir“auf das unbekannte „Sie“. Eine Konstellation, die in den Augen aller Überraschendes zutage fördert: Plötzlich lässt sich ein russischer Polizist von einem Mexikaner einen Sombrero aufsetzen, um ein Foto zu machen. Der Polizist lächelt. Kein mürrisches „Papiere! Wo ist die Registrierung?“mehr. Plötzlich erklären Busfahrer geduldig den Weg, Russen, die einige Brocken Englisch können, bestellen Ägyptern ein Taxi und geben dem Fahrer mit auf den Weg, er solle bloß nicht auf die Idee kommen, „unsere Gäste“abzuzocken. In der Metro, wo sonst die Türen knallen und der Fahrtwind pfeift, tanzen und singen und umarmen sich die Menschen.
Eine Moskauer Straße, die gar nicht als Fan-Feierzone deklariert worden war, wird ganz ohne zu fragen als solche genutzt, die Staatsmacht lässt die Massen gewähren, sie opfert kurzerhand das, was ihr heilig ist: den öffentlichen Raum. Die Menschen feiern das Chaos und dehnen die Regeln. Eine „gesamtgesellschaftliche Psychotherapie“nennt es der russische Journalist Oleg Kaschin. Ein neues Russland?
Die karnevaleske Freiheit und eine zuweilen rührende Unbekümmertheit der Menschen erfüllt die Straßen und Plätze. Es sind stark konzentrierte Punkte. Während auf dem Roten Platz in Moskau Kinder russische Fahnen schwenken und ihre Ballkünste vor den Kameras der ausländischen Fans vollführen, weist schon im Südwesten der Stadt nichts auf die WM hin. Während die Peruaner in Saransk – der kleinste Austragungsort der Spiele – Vergleiche zwischen traditionellen mordwinischen und traditionell peruanischen Kleidern anstellen, sehen die Menschen in Orsk am Ural lediglich im Fernsehen die bunten WM-Bilder. Eine Realität, fern von ihrer eigenen. Die, die diese Realität – auf einen Monat beschränkt – leben können, in Moskau, in St. Petersburg, in Samara, sie wollen Teil dieses Ausnahmezustands sein. Das Propagandaspektakel bietet eine Chance für den Austausch, wie es das bereits 1957 bei den Weltfestspielen und 1980 bei den Olympischen Spielen war, beides noch im sowjetischen Moskau.
Das, was sonst oft verwehrt wird, ist für kurze Zeit erlaubt. 1957 waren es zeitgenössische Theaterinszenierungen, Jazzabende, moderne Kunst. Jetzt sind es allabendliche Menschenansammlungen, die keiner staatlichen Genehmigung bedürfen. Auf der Straße begreifen die Menschen, dass „der Westen“, diese Bedrohung und Verehrung zugleich, dass „sie“kein unbeweglicher Monolith ist. „Sie“sind Menschen, Individuen, die sich freuen. Es ist nicht viel, aber es ist etwas, das von dieser WM bleiben wird. Auch wenn die Staatspropaganda schon bald wieder so etwas verkünden dürfte wie „Wir haben es ihnen gezeigt. Sie haben erlebt, wie es bei uns ist: alles bestens.“