Türkische Unternehmer fordern Reformen
Erdoğan siegt, aber die türkische Wirtschaft hat noch nicht gewonnen.
Als Recep Tayyip Erdoğan die Präsidentenwahl in der Türkei gewonnen hatte, machte die Istanbuler Börse erst einmal einen Freudensprung. Die Aktienkurse stiegen am Montagmorgen auf breiter Front, der Leitindex notierte vier Prozent höher. Aber die Euphorie verflog schnell – ein Strohfeuer. Zum Handelsschluss notierte der Börsenindex zwei Prozent im Minus. Am Dienstag setzte sich die Talfahrt fort. Das zeigt: Mit der für Erdoğan gewonnenen Wahl sind die wirtschaftlichen Sorgen nicht verflogen. Im Gegenteil, es könnten neue hinzukommen.
Die türkische Wirtschaft verzeichnete im ersten Quartal zwar ein rekordverdächtiges Wachstum von 7,4 Prozent. Doch das Wachstum steht auf tönernen Füßen. Die Regierung feuerte die Konjunktur mit staatlichen Kreditbürgschaften, Steuervergünstigungen und großen Infrastrukturprojekten an. Aber nun läuft die Inflation mit rund zwölf Prozent davon, die Lira hat seit Jahresbeginn fast ein Viertel ihres Außenwerts verloren, ausländische Anleger und Investoren ziehen sich zurück – alarmierend für die Türkei, die wie kaum ein zweites Schwellenland zum Ausgleich ihrer hohen Leistungsbilanzdefizite auf ausländisches Kapital angewiesen ist.
Ökonomen warnen vor einer Überhitzung der Konjunktur, die zum Absturz in eine Rezession führen könnte. Die Arbeitslosenquote von über zehn Prozent ist ein Warnsignal. Nicht zuletzt deshalb zog Erdoğan die eigentlich erst im November 2019 fälligen Wahlen vor. Er hat schon im Vorfeld durchblicken lassen, dass er unter dem neuen Präsidialsystem, das nun in Kraft tritt, die Zuständigkeiten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik neu ordnen will. Sie sollen von bisher sechs auf drei Ministerien konzentriert werden. Offen ist, wer die neuen Schlüsselministerien führen wird – und wie viele Kompetenzen Erdoğan selbst an sich ziehen wird.
Der türkische Industrieverband Tüsiad erklärte nach der Wahl, das Land stehe nun vor Aufgaben, die „dringende Aufmerksamkeit erfordern“. Der Verband nannte die Sicherung des Rechtsstaats, fiskalische Disziplin, den Kampf gegen die Inflation, die Unabhängigkeit der Notenbank, Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die Beschleunigung des EUBeitrittsprozesses. Tüsiad unterstrich auch die Notwendigkeit einer Bildungsreform. Seit Langem gibt es in Wirtschaftskreisen die Sorge, dass Erdoğans islamisch-konservativ geprägte Bildungspolitik das Land im internationalen Wettbewerb zurückwerfen wird.
Aber Erdoğan hat bisher nicht erkennen lassen, dass er die seit Jahren verschleppten Reformen in Angriff nehmen will. Er hat Wahlgeschenke versprochen, die er nun verteilen muss: Bonuszahlungen für zwölf Millionen Pensionisten, Stundungen für säumige Steuerzahler, Subventionen für die Bauern. Die Wohltaten sollen umgerechnet 4,4 Milliarden Euro kosten. Dabei ist das Haushaltsdefizit in den ersten fünf Monaten gegenüber dem Vorjahr schon um fast 80 Prozent gestiegen.