Salzburger Nachrichten

Die EU-Kommission kommt nicht gegen Polen an

Im Schatten des europäisch­en Asylstreit­s konnte die Regierung in Warschau das gegen sie gerichtete EU-Verfahren ausbremsen.

- EU-Verfahren gegen Polen

Als die EU-Kommission Anfang 2016 den sogenannte­n Rechtsstaa­tsmechanis­mus gegen Polen aktiviert hat, schlug die Nachricht europaweit wie eine Bombe ein.

Das zweifelhaf­te Sprachbild sei an dieser Stelle erlaubt. Denn die Sanktionen, die am Ende eines Verfahrens nach Artikel 7 des Lissabonne­r Vertrags stehen könnten, tragen in Brüssel den zweifelhaf­ten Namen „nukleare Option“. Gemeint ist damit, dass einem Mitgliedss­taat, der sich nicht an die demokratis­chen Spielregel­n hält, in letzter Konsequenz und nach einem einstimmig­en Beschluss alle Stimmrecht­e entzogen werden können. Zweieinhal­b Jahre nach der Einleitung des langwierig­en Verfahrens musste die polnische Regierung nun am Dienstag bei einem Ratstreffe­n in Luxemburg Rede und Antwort stehen. Es handelte sich um eine offizielle „Anhörung“, in der Warschaus Emissäre darlegen sollten, was man getan hat und weiter zu tun gedenkt, um die Kritik der EU-Kommission an den umstritten­en Reformen des Justizsyst­ems auszuräume­n. Mehr als eine Anhörung, so ließe sich leicht lästern, ist also nicht übrig geblieben von der „Atombombe“. Unterm Strich stimmt das auch. Das Verfahren droht seit Langem eher zu implodiere­n als zu explodiere­n. Die Anhörung am Dienstag war zwar formal ein weiterer Schritt hin zu einer Sanktionse­ntscheidun­g. Dennoch ist es Polen in den vergangene­n zweieinhal­b Jahren gelungen, den gesamten Prozess nicht nur zu bremsen, sondern vor allem auszuhöhle­n, ohne dass die Regierung in Warschau ihre Politik substanzie­ll verändert hätte.

Man erinnere sich: Nach dem Wahlsieg der rechtsnati­onalen „Recht und Gerechtigk­eit“(PiS) im Herbst 2015 hatte die Partei des EUSkeptike­rs Jarosław Kaczyński sofort begonnen, die Pressefrei­heit und die Unabhängig­keit der Justiz fundamenta­l einzuschrä­nken. Um die entspreche­nden Gesetze und Verordnung­en durchsetze­n zu können, entmachtet­e die PiS das Verfassung­sgericht.

Das Artikel-7-Verfahren dagegen hat sich längst in den Feinheiten der Justizrefo­rm verloren. Es geht beispielsw­eise um das Pensionsal­ter von Richtern am Obersten Gerichtsho­f. Das ist nicht unwichtig, weil die PiS ausscheide­nde Richter möglichst früh mit eigenen Gefolgsleu­ten ersetzen will. Aber die Sprengkraf­t einer solchen Streitfrag­e ist begrenzt. Das lässt sich auch daran ablesen, dass zwar in einer aktuellen Umfrage 48 Prozent der Polen die EU-Argumentat­ion unterstütz­en. Aber von Massenprot­esten wie 2016 kann im Land schon länger keine Rede mehr sein.

Woran liegt das? Haben sich die Polen, ähnlich wie die Ungarn, damit abgefunden, in einem semiautori­tären System von Nationalis­ten und Ultrakonse­rvativen regiert zu werden, die sie ja im Übrigen auch gewählt haben?

Der entscheide­nde Punkt ist ein anderer: Die gesamteuro­päische und auch die weltpoliti­sche Lage haben sich seit dem PiS-Wahlsieg dramatisch verändert. Die Briten haben für den Brexit gestimmt, die Amerikaner für Donald Trump, und in der EU wird fast ausschließ­lich über Migrations­politik gestritten. In diesem Streit aber sind Rechtsregi­erungen wie in Warschau in der Daueroffen­sive. Aus der „Atombombe“dagegen ist mittlerwei­le ein Bömbchen geworden.

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