Wo Politik ein tödliches Geschäft ist
120 Kandidaten und Amtsinhaber wurden bisher im mexikanischen Wahlkampf ermordet. Längst hat die organisierte Kriminalität das Land unterwandert. Am verwundbarsten sind die Kommunen.
Am Sonntag wählen die Mexikaner ihren Staatschef. Zugleich werden Tausende Bürgermeister und Abgeordnete im ganzen Land neu bestimmt. Und in der Endphase nimmt der Wahlkampf allzu wörtliche Züge an: 120 Politiker sind seit Beginn der Kampagne im September getötet worden, darunter 16 Frauen, ermordet zumeist von Killern des organisierten Verbrechens, das um Einfluss und Absprachen mit den amtierenden Machthabern zumeist auf Gemeindeebene fürchtet. Vor allem in den Bundesstaaten Veracruz, Guerrero, Oaxaca und Michoacán kann es eine Frage von Leben und Tod sein, sich zur Wahl zu stellen. Nie zuvor standen mexikanische Politiker so sehr im Fadenkreuz wie vor diesem 1. Juli, wenn 3416 Abgeordnete, Bürgermeister und Gouverneure in ganz Mexiko bestimmt werden. Der scheidende konservative Präsident Enrique Peña Nieto verliert zu alldem kein Wort.
Der jüngste Name lautet Emigdio Avendaño. Der 50-Jährige und vier weitere Menschen wurden am Montag auf dem Weg zu einer Wahlveranstaltung erschossen. Er hatte für einen Stadtratssitz in Oaxaca kandiert und war Unterstützer des linken Präsidentschaftskandidaten López Obrador. Zuvor finden sich Fernando Juárez und Omar Lucatero auf der Todesliste, zwei Kandidaten, die im Bundesstaat Michoacán in kleinen Gemeinden Bürgermeister werden wollten. Beide wurden von Kommandos in ihren Häusern erschossen. Der parteilose Lucatero versprach unter anderem, der 16.000 Einwohner zählenden Gemeinde Aguililla „die Ruhe zurückzubringen“.
Die mexikanische Risikoanalysefirma Etellekt hat seit September 400 Angriffe auf Politiker und Bewerber um öffentliche Ämter gezählt. Betroffen seien praktisch alle Parteien und alle Regionen des Landes, schreibt Etellekt in seinem fünften Bericht über politische Gewalt. Seit Ende September stirbt durchschnittlich alle vier Tage ein Bürgermeister, ein Kandidat, Kampagnenmanager oder Parteifunktionär. Unter den 120 getöteten Politikern waren 35 Kandidaten, die anderen Opfer waren zumeist Volksvertreter, die bereits ein Amt innehatten.
Mehr als die Hälfte der rund 3000 zur Wahl stehenden Posten wird auf lokaler oder Gemeindeebene vergeben. Und die Mafiakartelle machen bereits im Vorfeld klar, dass zumindest auf dieser Ebene von freien und fairen Wahlen nicht die Rede sein kann.
Hier besteht der Wahlkampf nicht aus Argumenten und Vorschlägen, sondern aus Drohungen, Bestechung und Morden. So bestimmen in den Tiefen der mexikanischen Provinz nicht die Bürger, wer in die Verantwortung kommt, sondern Kartelle und Banden namens Jalisco Nueva Generación (Jalisco Neue Generation), „Guerreros Unidos“(Vereinte Krieger) oder „Los Rojos“(Die Roten). Bereits mehr als 1000 Politiker haben nach einem Bericht der Zeitung „Milenio“ihre Kandidatur zurückgezogen.
Mexiko ist seit vielen Jahren ein in Teilen von der Kriminalität gekaperter Staat. Das organisierte Verbrechen hat die Institutionen unterwandert, vor allem in den strategischen Gebieten – in Grenzgebieten, in Küstenbereichen, in Gebirgsregionen. Dort bauen die Kartelle Cannabis und Mohn an, schmuggeln Rauschgift und Menschen, schaffen sich Korridore. „Dabei bieten vor allem Dörfer und Gemeinden die Möglichkeit, Zugriff auf die Sicherheitsstruktur oder die Finanzadministration zu bekommen“, erklärt Sandra Ley vom Forschungsinstitut CIDE, die sich mit dem Auswirkungen der organisierten Kriminalität auf die Politik beschäftigt. Seit mehr als 30 Jahren operieren die Kartelle in Mexiko. Lange Zeit wurden sie vom Staat kontrolliert, der Routen und Reviere zuteilte und als ordnende Hand fungierte, wie Edgardo Buscaglia beschreibt, ein Experte für organisierte Kriminalität. Mit der Kehrtwende in der Politik und dem folgenden Krieg gegen die Kartelle unter dem konservativen Präsidenten Felipe Calderón (2006 bis 2012) hätten sich die Spielregeln jedoch verändert, sagt Buscaglia. Aus Partnern wurden Feinde. Und insbesondere in den Provinzen drehte sich das Verhältnis um.
Begünstigt wurde das durch eine Dezentralisierung, die zur Folge hatte, dass die Gemeindebudgets nicht mehr vollständig aus den Steuereinnahmen des Bundes gespeist wurden. Bürgermeister mussten plötzlich ihre Budgets zu einem erklecklichen Teil selbst finanzieren. Das öffnete der Mafia Tür und Tor. Sie begann Wahlkämpfe zu finanzieren und konnte bestimmen, wer welchen Posten erhielt – wer die Zusammenarbeit verweigert, wird aus dem Weg geräumt. „Wer gewählt werden will, stellt sich auch der Machtfrage in seinem Bezirk und da gilt seit Langem das Prinzip ,plata o plomo‘ (Silber/Geld oder Blei), also Bestechlichkeit oder Lebensgefahr“, konstatiert die deutsche Konrad-Adenauer-Stiftung.
„Mexiko ist keine Demokratie, sondern eine Mafiokratie“, befindet Experte Buscaglia. Und solange es keine wirkliche Bereitschaft, die Unterwanderung der Politik durch die organisierte Kriminalität aufzubrechen, gebe, bleibe das auch so. „Bis dahin werden wir noch wesentlich mehr tote Politiker sehen.“