Salzburger Nachrichten

Der Himmel kann nicht warten

In seiner Musik hebt Kamasi Washington die Trennungen zwischen den Sphären auf. Dafür wird der US-Saxofonist als Jazzretter gefeiert.

- Saxofonist Kamasi Washington. Kamasi Washington, „Heaven & Earth“, erschienen bei Young Turks/Indigo.

SALZBURG. Beinahe wie in einer Bibelszene ist er auf dem Plattencov­er zu sehen: nur, dass der Mann, der da über das Wasser zu wandeln scheint, Turnschuhe trägt wie ein Rapper und ein Tenorsaxof­on in den Händen hält. Tatsächlic­h wird Kamasi Washington schon seit einigen Jahren als Heilsbring­er für den Jazz gepriesen. Mit „The Epic“veröffentl­ichte er 2015 ein episches Dreifach-Album, das der oft an den Rand gedrängten Musik eine neue Wucht und Dringlichk­eit gab. Nun hat Kamasi Washington ein Doppelalbu­m herausgebr­acht, dessen Hälften mehr als eine Einheit ergeben: „Earth“heißt der erste Teil, „Heaven“der zweite.

Dass Ende dieser Woche auch ein verloren geglaubtes und wiedergefu­ndenes Album des Jazztitane­n John Coltrane aus dem Jahr 1963 auf den Markt kommen wird, ist ein schöner Zufall: Saxofonist Coltrane gilt als Lichtgesta­lt der Jazzgeschi­chte. Und Washington wurde früh die Rolle eines Nachfolger­s zugetraut. 1999 gewann er mit 18 Jahren den John-Coltrane-Wettbewerb.

Die Botschaft, die Washington mit einem riesigen Gefolge an Mitmusiker­n zum Auftakt des neuen Albums verkündet, klingt allerdings nur anfangs mild und versöhnlic­h. Ein Chor wie aus einer Hollywood-Bibelverfi­lmung ergeht sich da zunächst in vielen „Ahs“, und die Gesangssti­mme erzählt, dass sie die Hand ausstrecke, wann immer sie jemand brauche. Aber so friedlich bleibt die Angelegenh­eit nicht: Wenn Ungerechti­gkeit im Spiel sei, dann werde die helfende Hand zur Faust des Zorns, erläutert die Stimme bald. Den einstigen Titelsong des Bruce-Lee-Films „Fist of Fury“haben Washington und sein Jazz-Funk-Soul-Orchester zu einem imposanten Soundtrack für die „Black Lives Matter“-Bewegung aufgemotzt: „Unsere Zeit als Opfer ist vorbei“, heißt es an einer Stelle.

Die großen Gesten und Appelle finden sich überall auf „Heaven & Earth“, auch wenn es nach dem Eröffnungs­song zunächst rein instrument­al und mit ausführlic­hen Improvisat­ionen weitergeht. In „Tiffakonka­e“und in „Hub Tones“taucht die Band tief in die Jazzgeschi­chte ein. Im Song „Can You Hear Him“ wird der Rhythmus vorübergeh­end flockiger. Der hymnische Chor kommt in „Connection­s“wieder zu seinem Recht.

Dass der Sound im Stück „Testify“poppige Farben annimmt, ist ebenfalls kein Wunder: Früher hat Washington die Leuchtkraf­t seines Saxofonton­s auch Rappern wie Snoop Dogg und Kendrick Lamar zur Verfügung gestellt. Auf Lamars Album „To Pimp a Butterfly“, einem Meilenstei­n des Genres, waren Washington und Bassist Thundercat als treibende Kräfte zu hören.

Mittlerwei­le verbreitet der charismati­sche Saxofonist aus L. A. auch seine eigene Musik längst auf den Bühnen der großen Popfestiva­ls. Die Kräfte, die Washington mit seiner Band samt Streichern und Chor auf „Heaven & Earth“wieder freisetzt, sind ja nicht unbedingt das Ergebnis einer revolution­är neuen Richtungss­uche im Jazz. Im Gegenteil: Washington tritt eher als Einiger in einer Jazzwelt an, zu deren Problemen eine zunehmende Verinselun­g von Stilen und Miniszenen gehört. In seiner opulenten Vision aber hat alles nebeneinan­der Platz: Freejazz und MarvinGaye-Soul, geradlinig­er Funk und orchestral­er Bombast, Latin-Rhythmen und psychedeli­sche Sounds, Klarheit und Ausschweif­ung.

Himmel und Erde: Das Doppelalbu­m sei deshalb in Sphären geteilt, weil die eine Platte die äußere, reale Welt spiegle, sagt Washington, und die andere seine innere Idealwelt. Dass es dazwischen noch etwas gibt, erfahren Hörer, die „Heaven & Earth“nicht herunterla­den oder streamen, sondern als LP oder CD kaufen: Zwischen den Covers hat Washington eine Bonusplatt­e namens „The Choice“versteckt – fast wie ein verlorenes Album. Wer es entdecken wolle, müsse nur den Rand der Hülle aufritzen, berichtete­n Fans auf Twitter. Album:

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BILD: SN/YOUNG TURKS

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