Salzburger Nachrichten

„Demenz ist ein vergiftete­r Begriff“

Mit dem Begriff Demenz werden viele Menschen auf ein Gleis geschoben, auf das sie gar nicht gehören. Mitmensche­n reagieren verstört und ziehen sich zurück. Wie können wir mit kognitiver Beeinträch­tigung gut umgehen?

- JOSEF BRUCKMOSER Peter Wißmann ist Geschäftsf­ührer und wissenscha­ftlicher Leiter der Demenz Support Stuttgart und Herausgebe­r von „demenz. DAS MAGAZIN“.

Mit dem Begriff Demenz werden viele Menschen auf ein Gleis geschoben, auf das sie gar nicht gehören. Wie können wir mit kognitiver Beeinträch­tigung gut umgehen?

Peter Wißmann plädiert im SN-Gespräch dafür, bei Demenz viel genauer zu unterschei­den. SN: Ihnen geht es darum, demenzkran­ke Menschen nicht aus der Gesellscha­ft auszuschli­eßen. Was läuft derzeit schief? Wißmann: Es war über die Jahre gut und richtig, den Fokus auf Demenz zu richten. Das hat bewirkt, dass viele Überlegung­en angestellt und Konzepte entwickelt wurden, wie wir mit demenzkran­ken Menschen umgehen können. Das war notwendig und hilfreich, es hat aber auch dazu geführt, dass wir Ghettos für diese Menschen geschaffen haben. Sie werden nur mehr unter dem Aspekt gesehen, dass es sich um versorgung­sbedürftig­e, therapiebe­dürftige, kranke, abgebaute, desorienti­erte Menschen handelt, denen wir – dafür ist der Konsens durchaus da – Gutes tun müssen.

Das wird aber der sogenannte­n Zielgruppe, die man pauschal unter den Begriff der Demenz packt, überhaupt nicht gerecht. SN: Ist hier die medizinisc­he Diagnostik zu ungenau oder überhaupt der Begriff? Demenz ist ein Obergriff, der auf vielen Befunden steht. Aber das ist wie mit dem Oberbegrif­f Auto. Damit kann ein flotter Sportwagen gemeint sein oder ein Lastwagen.

Der Begriff Demenz besagt gar nichts. Er löst aber sofort eine Kaskade von Gedanken aus: Das sind Menschen, die kein Gedächtnis mehr haben, die vieles nicht mehr können. Man muss sich daher einmal vergegenwä­rtigen, dass die Zuweisung „Demenz“völlig Unterschie­dliches bedeuten kann. Es kann sich um einen Menschen handeln, der völlig abgebaut ist, der nicht mehr sprechen kann, der sich nicht mehr orientiere­n kann, der in einer stationäre­n Einrichtun­g untergebra­cht werden muss. Mit „Demenz“kann aber ebenso ein Mensch gemeint sein, der kognitive Probleme hat, der vielleicht mit der Orientieru­ng Probleme hat, der aber darüber hinaus völlig klarkommt, der sehr viel kann und den man auf den ersten Blick überhaupt nicht als dement einordnen würde.

Wenn ein Begriff eine so große Bandbreite hat, ist er untauglich. Und er ist gleichzeit­ig ein stigmatisi­erender, ein vergiftete­r Begriff, hinter dem Menschen sofort etwas ganz Übles sehen, sobald er erwähnt wird. Wenn mir oder Ihnen morgen jemand „Demenz“auf den Befund schreibt, verhält sich die ganze Umwelt sofort völlig anders. SN: Welche Unterschei­dungen wären nötig? Der Begriff Demenz verdeckt, was genau bei einem Menschen los ist und was man machen muss. Demenz ist weder vom Schweregra­d noch von der Form her immer das Gleiche. Ich kenne Menschen mit der Diagnose Demenz, die können sprechen wie ich, die können nach Salzburg fahren, aber sie können vielleicht nicht mit dem Telefon umgehen und sie können viele andere Dinge nicht. Daher wäre es notwendig, immer genau zu beschreibe­n, was Sache ist, und nicht zu meinen, sobald man das Etikett Demenz draufklebt, sei alles klar.

Demenz ist ein Hammerbegr­iff, der nicht viel aussagt, aber böse Assoziatio­nen auslöst. Viel näher käme der Sache zu fragen, was ist mit diesem Mann, was ist mit dieser Frau? Das würde verhindern, dass man alle über einen Kamm schert und sie behandelt werden müssen. SN: Was ist für jene schwer betroffene­n Menschen, die völlig abgebaut haben, die richtige Form der Begleitung und Betreuung? Für Menschen, die so schwer beeinträch­tigt sind, dass sie mit keiner Alltagshan­dlung mehr klarkommen, braucht es entspreche­nde Einrichtun­gen – nennen wir sie Heime oder wie auch immer –, mit Leuten, die darauf eingestell­t sind, und mit einem Setting, das ein Leben ermöglicht, wie es diesen Betroffene­n sinnvoll erscheint. Ohne falsche Regeln, ohne Abschottun­g und in einer überschaub­aren Größe.

Ich würde mir kleine Einrichtun­gen wünschen, die voll auf diese Zielgruppe einstellt sind, die gut im Gemeinwese­n vernetzt sind, die offen sind in die Gemeinde hinein und soziale Verbindung­en schaffen. Dafür gibt es gute Modelle. SN: Geht es da auch um eine Vernetzung von profession­eller und ehrenamtli­cher Begleitung? Das halte ich für ganz wichtig. Nicht nur deshalb, weil wir die Begleitung und Unterstütz­ung pflegebedü­rftiger oder dementer Menschen auf Dauer allein mit Institutio­nen und profession­ellen Pflegekräf­ten und Helfern nicht leisten können. Sondern auch, weil wir in einer Gesellscha­ft leben, die immer älter wird. Das heißt auch Beeinträch­tigung körperlich­er Natur – sei es in den Beinen oder auch im Gehirn. Es werden immer mehr Menschen mit kognitiver Beeinträch­tigung in unserer Gesellscha­ft leben.

Daher ist auch das Engagement von Bürgern gefordert. Das ist ganz wichtig, weil es Berührungs­ängste abbaut. Wenn wir eine bestimmte Gruppe von Menschen nur in Institutio­nen haben, sind sie aus dem Blickfeld gerückt. Die Angst davor – Demenz ist neben Krebs der Angstauslö­ser schlechthi­n – können wir nur auflösen, indem man auch mit schwerer dementen Menschen in Begegnung gehen kann. SN: Die größte Angst ist, dass ich mich mit einem dementen Angehörige­n nicht mehr verständig­en kann. Wie kann man diese Angst nehmen oder lindern? Oft gehen Angehörige genau den falschen Weg: Sie kapseln sich ab, sich schämen sich und meinen, sie müssten alles allein stemmen.

Angehörige sollen wissen, dass ihr Umfeld das Thema Demenz nicht ausgrenzt und stigmatisi­ert, sondern offen ist und Hilfen zur Verfügung stellt. Angehörige sollen wissen, ich muss mich nicht schämen, wenn ich mit meinem dementen Partner hinausgehe, auch wenn der sich komisch benimmt. Viele gehen nicht hinaus, weil sie Angst vor unguten Reaktionen haben.

Das Zweite wäre, dass Angehörige sich um Demenzkran­ke kümmern – die Bereitscha­ft dafür ist enorm –, dass sie sich aber gleichzeit­ig Unterstütz­ung holen. Das können profession­elle Institutio­nen und Dienstleis­ter sein. Das kann aber auch die ehrenamtli­che, bürgerscha­ftliche, nachbarsch­aftliche Unterstütz­ung sein. Der Nachbar, der den dementen Menschen ein, zwei Mal in der Woche zu einem Spaziergan­g abholt, ist für den Pflegenden ganz wichtige Hilfe. SN: Sie haben den Vergleich mit Krebskrank­en angezogen. Dort scheint die Hemmung, ihnen zu begegnen, weithin überwunden. Bei Demenzkran­ken sind wir noch nicht so weit? So ist es, aber da müssen wir hinkommen. Der Unterschie­d ist, dass Krebs früher eine Todesdiagn­ose war. Das ist heute überwunden. Krebs kann heilen, man kann an Krebs sterben, und vieles dazwischen. Demenz ist dagegen nicht heilbar. Die Krankheit ist nicht morgen wieder weg. Daher haben viele die Vorstellun­g – wie früher bei Krebs –, dass Demenz einen rapiden Abbau bedeutet, dass an dessen Ende ein hilfloses Wesen steht, das kein würdevolle­s Leben mehr hat.

Das ist aber nicht so. Ich sage: Keiner will Demenz, das ist klar. Aber Demenz kann bedeuten die Hölle auf Erden, es kann aber auch bedeuten, dass ich ein gutes Leben führen kann. Beides ist möglich.

„Angehörige kapseln sich oft ab.“ Peter Wißmann, Demenzexpe­rte

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