„Demenz ist ein vergifteter Begriff“
Mit dem Begriff Demenz werden viele Menschen auf ein Gleis geschoben, auf das sie gar nicht gehören. Mitmenschen reagieren verstört und ziehen sich zurück. Wie können wir mit kognitiver Beeinträchtigung gut umgehen?
Mit dem Begriff Demenz werden viele Menschen auf ein Gleis geschoben, auf das sie gar nicht gehören. Wie können wir mit kognitiver Beeinträchtigung gut umgehen?
Peter Wißmann plädiert im SN-Gespräch dafür, bei Demenz viel genauer zu unterscheiden. SN: Ihnen geht es darum, demenzkranke Menschen nicht aus der Gesellschaft auszuschließen. Was läuft derzeit schief? Wißmann: Es war über die Jahre gut und richtig, den Fokus auf Demenz zu richten. Das hat bewirkt, dass viele Überlegungen angestellt und Konzepte entwickelt wurden, wie wir mit demenzkranken Menschen umgehen können. Das war notwendig und hilfreich, es hat aber auch dazu geführt, dass wir Ghettos für diese Menschen geschaffen haben. Sie werden nur mehr unter dem Aspekt gesehen, dass es sich um versorgungsbedürftige, therapiebedürftige, kranke, abgebaute, desorientierte Menschen handelt, denen wir – dafür ist der Konsens durchaus da – Gutes tun müssen.
Das wird aber der sogenannten Zielgruppe, die man pauschal unter den Begriff der Demenz packt, überhaupt nicht gerecht. SN: Ist hier die medizinische Diagnostik zu ungenau oder überhaupt der Begriff? Demenz ist ein Obergriff, der auf vielen Befunden steht. Aber das ist wie mit dem Oberbegriff Auto. Damit kann ein flotter Sportwagen gemeint sein oder ein Lastwagen.
Der Begriff Demenz besagt gar nichts. Er löst aber sofort eine Kaskade von Gedanken aus: Das sind Menschen, die kein Gedächtnis mehr haben, die vieles nicht mehr können. Man muss sich daher einmal vergegenwärtigen, dass die Zuweisung „Demenz“völlig Unterschiedliches bedeuten kann. Es kann sich um einen Menschen handeln, der völlig abgebaut ist, der nicht mehr sprechen kann, der sich nicht mehr orientieren kann, der in einer stationären Einrichtung untergebracht werden muss. Mit „Demenz“kann aber ebenso ein Mensch gemeint sein, der kognitive Probleme hat, der vielleicht mit der Orientierung Probleme hat, der aber darüber hinaus völlig klarkommt, der sehr viel kann und den man auf den ersten Blick überhaupt nicht als dement einordnen würde.
Wenn ein Begriff eine so große Bandbreite hat, ist er untauglich. Und er ist gleichzeitig ein stigmatisierender, ein vergifteter Begriff, hinter dem Menschen sofort etwas ganz Übles sehen, sobald er erwähnt wird. Wenn mir oder Ihnen morgen jemand „Demenz“auf den Befund schreibt, verhält sich die ganze Umwelt sofort völlig anders. SN: Welche Unterscheidungen wären nötig? Der Begriff Demenz verdeckt, was genau bei einem Menschen los ist und was man machen muss. Demenz ist weder vom Schweregrad noch von der Form her immer das Gleiche. Ich kenne Menschen mit der Diagnose Demenz, die können sprechen wie ich, die können nach Salzburg fahren, aber sie können vielleicht nicht mit dem Telefon umgehen und sie können viele andere Dinge nicht. Daher wäre es notwendig, immer genau zu beschreiben, was Sache ist, und nicht zu meinen, sobald man das Etikett Demenz draufklebt, sei alles klar.
Demenz ist ein Hammerbegriff, der nicht viel aussagt, aber böse Assoziationen auslöst. Viel näher käme der Sache zu fragen, was ist mit diesem Mann, was ist mit dieser Frau? Das würde verhindern, dass man alle über einen Kamm schert und sie behandelt werden müssen. SN: Was ist für jene schwer betroffenen Menschen, die völlig abgebaut haben, die richtige Form der Begleitung und Betreuung? Für Menschen, die so schwer beeinträchtigt sind, dass sie mit keiner Alltagshandlung mehr klarkommen, braucht es entsprechende Einrichtungen – nennen wir sie Heime oder wie auch immer –, mit Leuten, die darauf eingestellt sind, und mit einem Setting, das ein Leben ermöglicht, wie es diesen Betroffenen sinnvoll erscheint. Ohne falsche Regeln, ohne Abschottung und in einer überschaubaren Größe.
Ich würde mir kleine Einrichtungen wünschen, die voll auf diese Zielgruppe einstellt sind, die gut im Gemeinwesen vernetzt sind, die offen sind in die Gemeinde hinein und soziale Verbindungen schaffen. Dafür gibt es gute Modelle. SN: Geht es da auch um eine Vernetzung von professioneller und ehrenamtlicher Begleitung? Das halte ich für ganz wichtig. Nicht nur deshalb, weil wir die Begleitung und Unterstützung pflegebedürftiger oder dementer Menschen auf Dauer allein mit Institutionen und professionellen Pflegekräften und Helfern nicht leisten können. Sondern auch, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer älter wird. Das heißt auch Beeinträchtigung körperlicher Natur – sei es in den Beinen oder auch im Gehirn. Es werden immer mehr Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft leben.
Daher ist auch das Engagement von Bürgern gefordert. Das ist ganz wichtig, weil es Berührungsängste abbaut. Wenn wir eine bestimmte Gruppe von Menschen nur in Institutionen haben, sind sie aus dem Blickfeld gerückt. Die Angst davor – Demenz ist neben Krebs der Angstauslöser schlechthin – können wir nur auflösen, indem man auch mit schwerer dementen Menschen in Begegnung gehen kann. SN: Die größte Angst ist, dass ich mich mit einem dementen Angehörigen nicht mehr verständigen kann. Wie kann man diese Angst nehmen oder lindern? Oft gehen Angehörige genau den falschen Weg: Sie kapseln sich ab, sich schämen sich und meinen, sie müssten alles allein stemmen.
Angehörige sollen wissen, dass ihr Umfeld das Thema Demenz nicht ausgrenzt und stigmatisiert, sondern offen ist und Hilfen zur Verfügung stellt. Angehörige sollen wissen, ich muss mich nicht schämen, wenn ich mit meinem dementen Partner hinausgehe, auch wenn der sich komisch benimmt. Viele gehen nicht hinaus, weil sie Angst vor unguten Reaktionen haben.
Das Zweite wäre, dass Angehörige sich um Demenzkranke kümmern – die Bereitschaft dafür ist enorm –, dass sie sich aber gleichzeitig Unterstützung holen. Das können professionelle Institutionen und Dienstleister sein. Das kann aber auch die ehrenamtliche, bürgerschaftliche, nachbarschaftliche Unterstützung sein. Der Nachbar, der den dementen Menschen ein, zwei Mal in der Woche zu einem Spaziergang abholt, ist für den Pflegenden ganz wichtige Hilfe. SN: Sie haben den Vergleich mit Krebskranken angezogen. Dort scheint die Hemmung, ihnen zu begegnen, weithin überwunden. Bei Demenzkranken sind wir noch nicht so weit? So ist es, aber da müssen wir hinkommen. Der Unterschied ist, dass Krebs früher eine Todesdiagnose war. Das ist heute überwunden. Krebs kann heilen, man kann an Krebs sterben, und vieles dazwischen. Demenz ist dagegen nicht heilbar. Die Krankheit ist nicht morgen wieder weg. Daher haben viele die Vorstellung – wie früher bei Krebs –, dass Demenz einen rapiden Abbau bedeutet, dass an dessen Ende ein hilfloses Wesen steht, das kein würdevolles Leben mehr hat.
Das ist aber nicht so. Ich sage: Keiner will Demenz, das ist klar. Aber Demenz kann bedeuten die Hölle auf Erden, es kann aber auch bedeuten, dass ich ein gutes Leben führen kann. Beides ist möglich.
„Angehörige kapseln sich oft ab.“ Peter Wißmann, Demenzexperte