Die Heimkehr des verlorenen Tones
Wenn nach 55 Jahren ein verschollenes Album des Jazzgiganten John Coltrane auftaucht, drängen sich biblische Vergleiche nahezu auf.
Andere werden als Ikonen bewundert. Er hingegen wird wie ein Heiliger verehrt: In San Francisco gibt es sogar eine eigene Freikirche, die sich „Church of St. John Coltrane“nennt und Liturgien im Geist des großen Saxofonisten zelebriert. In der Musik von John Coltrane war die Suche nach Spiritualität schließlich stets tief eingeschrieben.
An der Seite von Miles Davis hatte er in den 1950er-Jahren den Durchbruch geschafft. Später, als Chef seiner eigenen Bands, war John Coltrane dem Zeitgeist gern einen Schritt voraus: „Giant Steps“heißt eine seiner wichtigsten Aufnahmen aus dem Jahr 1960. Zu einem Meilenstein aber wurde das religiös-hymnische Album „A Love Supreme“: Eingespielt von John Coltrane mit den Musikern seines wichtigsten Quartetts, Jimmy Garrison, Elvin Jones und McCoy Tyner, aufgenommen im legendären Tonstudio von Rudy Van Gelder in New Jersey, veröffentlicht 1965 bei dem Plattenlabel Impulse Records.
Kein Wunder, dass nun eine spektakuläre Entdeckung aus dieser Ära erneut hymnische Vergleiche hervorruft. Ein bisher unbekanntes Album ist aufgetaucht: Eingespielt von John Coltrane im Jahr 1963 mit demselben Quartett, aufgenommen im Studio von Rudy Van Gelder, aber aus unbekannten Gründen nie veröffentlicht. Erst mit 55-jähriger Verspätung erscheinen die Aufnahmen nun am heutigen Freitag. Als „heiliger Gral“wird das verlorene Album deshalb im Pressetext bezeichnet.
Zu hören sind John Coltrane, Schlagzeuger Elvin Jones, Bassist Jimmy Garrison und Pianist McCoy Tyner auf der Platte in einer Phase starker Verbundenheit. Seit einem Jahr war die Besetzung seines Quartetts damals gefestigt. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen war die Band obendrein intensiv warmgespielt: Die Session fand am Ende einer zweiwöchigen Konzertserie im „Blue Note“statt. Offenbar wurde sie spontan eingeschoben. Ein paar Tage später wartete ja schon der nächste offizielle Studiotermin. Mit dem Sänger Johnny Hartman plante der Star, der immer mehr zur Avantgarde tendierte, zwischendurch ein breitenwirksameres Album.
Zwischen diesen beiden Polen lassen sich auch die Songs einordnen, die auf den lang verschollenen Bändern der Session vom 6. März 1963 dokumentiert sind. Die Aufnahmen fördern einerseits zwei gänzliche Neuentdeckungen zutage, also Kompositionen, die bisher weder von Live-Mitschnitten noch von anderen Studiosessions der Ära bekannt waren. Als „Untitled Originals“sind sie auf der CD zu finden. Andererseits nahm Coltrane auch bekannte Melodien als Gerüst für seine Improvisationen. Bei „Nature Boy“macht das Klavier Pause, der Bass kreist nur um den Grundakkord, das Saxofon hat also freie Bahn, um die Harmonien neu zu färben. Auch den Operettenschlager „Vilia“aus der „Lustigen Witwe“spielte der Saxofonist mit intensiv leuchtendem Ton. Berühmte Melodien auszuborgen und sie mit ausführlichen Soli umzukrempeln, war im Jazz üblich. Mit seiner Instrumentalversion des Schlagers „My Favourite Things“aus „The Sound of Music“hatte Coltrane 1960 sogar einen Hit verzeichnet.
Das Vortasten zu neuen Klängen und der gleichzeitige Rückgriff auf Vertrautes, das die Stellung des großen Jazzstars festigen konnte, sei charakteristisch für die Phase, in der sich Coltrane 1963 befunden habe, sagt dessen Sohn, Saxofonist Ravi Coltrane. „Both Directions at Once“heißt das Album daher. Ravi Coltrane hat die sieben Aufnahmen für die CD ausgewählt. Eine DeluxePackung bietet weitere sieben Stücke als Bonus-Material: Zum Beispiel verschiedene Versionen des Coltrane-Klassikers „Impressions“.
Diese Aufnahmen zu hören habe sich so angefühlt, wie einen vergrabenen Schatz zu finden, erzählte Ravi Coltrane in einem Radio-Interview. Gefunden wurden sie im Nachlass von John Coltranes damaliger Frau Naima. Der Saxofonist hatte nach dem Studiotermin eine Kopie mit nach Hause genommen. Die Originale sind verschollen.
Wie eine Plattenfirma es schafft, Aufnahmen ihres wichtigsten Künstlers zu verlieren, ist im Booklet-Text ebenfalls erläutert. Weil John Coltranes Innovationslust die Business-Pläne der Plattenfirma Impulse wohl überfordert hätte, machte Produzent Bob Thiele für die Aufnahmen manchmal heimlich Studiotermine aus oder verlegte sie gleich auf die Nachtzeiten. Gut möglich also, dass die Bänder so in Vergessenheit gerieten.
Das Besondere an diesem Fund, sagt Ravi Coltrane, sei, dass es sich um ein Material für ein komplettes Album handle, nicht um einzelne Stücke, und dass es aus einer Zeit stamme, in der John Coltrane als Bandleader, als Komponist und Improvisator vor der vollen Blüte stand. Ob aus der Phase des Schaffensdrangs noch weitere Alben auftauchen könnten? Für Wunder ist es scheinbar nie zu spät. Album:
„Es ist, als ob man einen vergrabenen Schatz finden würde.“