Zwei Antihelden spielen gegen die Doppelmoral
Wenn Fußball keine Rolle mehr spielt, kann man auch ins Theater gehen: Vor dem „Hunger“in Salzburg kommt „Don Juan“in München. Frank Castorf inszeniert Molières Drama.
Freitagabend in München. Die Menschen sitzen vor den Cafés der Maximilianstraße. Fußball ist kein Thema mehr. Die schwarz-rot-goldenen Flaggen sind aus dem Stadtbild verschwunden. Die WM hat bloß einen Tag spielfrei, Deutschland aber hat sich in jeder Hinsicht aus dem Turnier verabschiedet.
Wer aber einen legendären Spieler erleben will, ist im Residenztheater an der richtigen Stelle. Nein, nicht Weltmeister Philipp Lahm, dem dort tatsächlich ein Stück gewidmet ist. Es geht vielmehr um den Meister des Vabanquespiels mit Frauenherzen. Frank Castorf, der heuer Knut Hamsuns Roman „Hunger“bei den Salzburger Festspielen auf die Bühne bringen wird, gestaltet einen Abend rund um Molières „Don Juan“.
Der deutsche Regisseur sieht sich selbst als Leistungssportler, und nicht selten führen Castorfs epische Produktionen auch das Publikum an seine Grenzen. „Don Juan“ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Mit etwas mehr als vier Stunden Spielzeit wirkt der Abend geradezu kompakt, und auch das Sujet bewirkt bei Frank Castorf eine gewisse Leichtigkeit.
Aus einem Don Juan mach zwei: Franz Pätzold verkörpert Wendigkeit und Eleganz des Verführers, von Kostümschneiderin Adriana Braga Peretzki barock aufgebrezelt wie ein Punk-Mozart. Aurel Manthei ist der Kraftprotz dieser Doppelspitze, äußerlich gleicht er Rockgitarrist Slash und darf das vielleicht populärste Zitat dieses Theaterklassikers beisteuern: „Beständigkeit taugt nur für die Narren.“Dass alle Frauen ein Recht auf das Begehren besitzen, passt zu Castorfs Bild von Don Juan: kein begehrenswerter Frauenheld, eher ein frecher Anarchist im Kampf gegen die Doppelmoral seiner Zeit.
Diese bessere, reichlich verkommene Gesellschaft des 17. Jahrhunderts skizziert Alexander Puschkin in seinem Einakter „Das Gelage während der Pest“, der bald in Molières rund 350 Jahre altes Stück eindringt. Dieses Castorf-typische Changieren zwischen unterschiedlichen Texten, zwischen Bühnenkunst und Live-Film wird durch Aleksandar Denićs vielgestaltige Drehbühne ermöglicht. Eine barocke Mini-Theaterbühne, ein spani- sches Herrschaftshaus und eine hölzerne Bauernscheune mit der vieldeutigen Leuchtschrift „Open – 24 Hours“dienen als wechselnde Schauplätze.
Nora Buzalka sitzt zwischen echten Ziegen, während Marcel Heuperman eine deftige Episode aus Georges Batailles „Das obszöne Werk“erzählt. Die beiden Don Juans gehen zu den Klängen von „The Boys Are Back in Town“splitternackt auf die wollüstige Melkerin los. Endlos lang breitet sich diese Lustspielszene aus, die auch an Pier Paolo Pasolinis eigenartige Erotikfilme der 1970er erinnert. Der zweite Teil des Abends gestaltet sich düsterer, geheimnisvoller. Bibiana Beglau setzt zum Monolog über die fatale Anziehungskraft von Zerstreuungen an. Jürgen Stössinger vereint die Antipoden Don Juans: den frömmelndem Vater und den steinernen Gast, der Don Juan zuletzt in die Hölle überführt. Was bleibt nach dem Tod? Frank Castorf lässt das Verführer-Doppel putzmunter über die Maximilianstraße schlendern. Es ist doch alles nur ein Spiel.