Europas Politiker sollten ihre Prioritäten überdenken
Hitzige Debatten über Grenzen und Flüchtlinge überlagern in der Tagespolitik weitaus wichtigere Themen.
Der Blick nach München und Berlin schafft Gewissheit: Es gibt derzeit kein wichtigeres Thema in ganz Europa als die Frage, ob man Flüchtlinge am Überqueren einer Grenze hindern kann, darf, soll oder gar muss. Darüber zerstreiten sich Schwesterparteien in Deutschland, ganze EU-Gipfeltreffen dienen fast ausschließlich dazu, dass möglichst jeder Regierungschef in die Kamera rufen darf: „2015 darf sich nicht wiederholen!“
Diese Parole ist, wie oft man sie auch wiederholen mag, von beunruhigender inhaltlicher Leere. 2015 ist definitiv vorbei, das Jahr kann sich nicht wiederholen, ebenso wie sich Geschichte niemals wiederholen kann, selbst wenn unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Fehler gemacht werden sollten. Es ist schon klar, weshalb so mancher Politiker alles staatstragende Gehabe über Bord wirft und die Angst vor Zuwanderung zur Panikwelle aufbauscht. Damit lassen sich Stimmen fangen, damit kann jeder beweisen, dass er gerade so national-populistisch ist wie sein Nachbar in Ungarn, Tschechien, der Slowakei oder Polen.
Diese Fixierung europäischer Politik auf ein einziges Thema löst Beklemmungen aus. Das hängt auch damit zusammen, dass nicht nur die Politik sich auf diesen Tunnelblick konzentriert, sondern auch andere Teile der Gesellschaft: Medien, Intellektuelle, Künstler. Der gesellschaftliche Diskurs beißt sich an einigen wenigen innenpolitischen Themen und der Asyldebatte fest.
Doch Europa steht vor ganz anderen Bedrohungen. Gleich von drei Seiten droht Ungemach. Autoritäre bis diktatorische Regime setzen der EU zu. Und dabei ist der selbstherrliche Möchtegern-Sultan in Ankara noch die geringste Bedrohung. Die baltischen Staaten fühlen sich zu Recht von Wladimir Putins Russland bedroht, was weder Ungarns Viktor Orbán noch einen Teil der europäischen Nationa- listen daran hindert, in Moskau den „natürlichen“Verbündeten Europas zu sehen. Obwohl mittlerweile klar ist, dass Putin hier Unruhe stiftet und Wahlen zu manipulieren sucht.
US-Präsident Donald Trump ist drauf und dran, die Bindungen der USA mit Europa zu zerstören. Sein Weitblick reicht nicht hin, um zu erkennen, dass das transatlantische Bündnis zwar den Europäern nützt, aber auch eine der Voraussetzungen für die strategische Vormachtstellung Amerikas ist. China schickt sich an, eine erdrückende weltpolitische und wirtschaftliche Machtposition zu erobern. Diesen Entwicklungen hat das uneinige Europa derzeit nicht nur nichts entgegenzusetzen, seine Politiker denken nicht einmal darüber nach.
In Europa tut man lieber so, als entschiede sich das Schicksal der Welt an den Grenzübergängen von Kufstein und am Walserberg.