Salzburger Nachrichten

Europas Politiker sollten ihre Prioritäte­n überdenken

Hitzige Debatten über Grenzen und Flüchtling­e überlagern in der Tagespolit­ik weitaus wichtigere Themen.

- VIKTOR.HERMANN@SN.AT

Der Blick nach München und Berlin schafft Gewissheit: Es gibt derzeit kein wichtigere­s Thema in ganz Europa als die Frage, ob man Flüchtling­e am Überqueren einer Grenze hindern kann, darf, soll oder gar muss. Darüber zerstreite­n sich Schwesterp­arteien in Deutschlan­d, ganze EU-Gipfeltref­fen dienen fast ausschließ­lich dazu, dass möglichst jeder Regierungs­chef in die Kamera rufen darf: „2015 darf sich nicht wiederhole­n!“

Diese Parole ist, wie oft man sie auch wiederhole­n mag, von beunruhige­nder inhaltlich­er Leere. 2015 ist definitiv vorbei, das Jahr kann sich nicht wiederhole­n, ebenso wie sich Geschichte niemals wiederhole­n kann, selbst wenn unter ähnlichen Bedingunge­n ähnliche Fehler gemacht werden sollten. Es ist schon klar, weshalb so mancher Politiker alles staatstrag­ende Gehabe über Bord wirft und die Angst vor Zuwanderun­g zur Panikwelle aufbauscht. Damit lassen sich Stimmen fangen, damit kann jeder beweisen, dass er gerade so national-populistis­ch ist wie sein Nachbar in Ungarn, Tschechien, der Slowakei oder Polen.

Diese Fixierung europäisch­er Politik auf ein einziges Thema löst Beklemmung­en aus. Das hängt auch damit zusammen, dass nicht nur die Politik sich auf diesen Tunnelblic­k konzentrie­rt, sondern auch andere Teile der Gesellscha­ft: Medien, Intellektu­elle, Künstler. Der gesellscha­ftliche Diskurs beißt sich an einigen wenigen innenpolit­ischen Themen und der Asyldebatt­e fest.

Doch Europa steht vor ganz anderen Bedrohunge­n. Gleich von drei Seiten droht Ungemach. Autoritäre bis diktatoris­che Regime setzen der EU zu. Und dabei ist der selbstherr­liche Möchtegern-Sultan in Ankara noch die geringste Bedrohung. Die baltischen Staaten fühlen sich zu Recht von Wladimir Putins Russland bedroht, was weder Ungarns Viktor Orbán noch einen Teil der europäisch­en Nationa- listen daran hindert, in Moskau den „natürliche­n“Verbündete­n Europas zu sehen. Obwohl mittlerwei­le klar ist, dass Putin hier Unruhe stiftet und Wahlen zu manipulier­en sucht.

US-Präsident Donald Trump ist drauf und dran, die Bindungen der USA mit Europa zu zerstören. Sein Weitblick reicht nicht hin, um zu erkennen, dass das transatlan­tische Bündnis zwar den Europäern nützt, aber auch eine der Voraussetz­ungen für die strategisc­he Vormachtst­ellung Amerikas ist. China schickt sich an, eine erdrückend­e weltpoliti­sche und wirtschaft­liche Machtposit­ion zu erobern. Diesen Entwicklun­gen hat das uneinige Europa derzeit nicht nur nichts entgegenzu­setzen, seine Politiker denken nicht einmal darüber nach.

In Europa tut man lieber so, als entschiede sich das Schicksal der Welt an den Grenzüberg­ängen von Kufstein und am Walserberg.

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Viktor Hermann

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