Ein ritueller Auftritt im Europäischen Parlament
Die Abläufe sind streng geregelt. Die Redezeit beträgt 20 Minuten, es besteht auch die Möglichkeit zu einer Debatte.
Eine Rede im Europäischen Parlament zu halten ist für einen Regierungschef oder Präsidenten eine Ehre. So viele Vertreter aus verschiedenen Nationen gibt es sonst nur in der UNO in New York. Im großen Plenarsaal in Straßburg mit seinen 863 Plätzen plus Besuchertribüne waren schon Päpste, US-Präsident Ronald Reagan, der Dalai Lama und Queen Elizabeth, es haben französische Präsidenten und deutsche Kanzler gemeinsam gesprochen. Diese Woche widerfuhr die Ehre eines solchen Auftritts Bundeskanzler Sebastian Kurz. Es ist guter Brauch, am Beginn einer Ratspräsidentschaft den Parlamentariern Rede und Antwort zu stehen. Im EU-Parlament ist der Auftritt eher Routine: Empfang durch den Präsidenten am VIPEingang ( dem einzigen ohne strikte Sicherheitskontrollen), höfliches Geplauder und Erfrischung im Salon Protocolaire und Aufstieg in den Hemicycle. Am Eingang gibt es noch ein Kämmerchen, eine Art Startbox – um sich zu sammeln oder einfach auf den Moment zu warten. Der Platz, auf dem der hohe Gast Platz nimmt, hat übrigens keine Nummer (ebenso wie der daneben). Der Legende nach wurde sie 2007 für den Besuch von Nicolas Sarkozy abmontiert, weil er sonst auf Platz zwei gesessen wäre – was für den damaligen französischen Präsidenten unvorstellbar war.
Die Abläufe sind streng geregelt. Der Gast hat etwa 20 Minuten für seine Rede, wobei aber auch niemand unterbrochen wird, wenn er sich nicht daran hält. Die europäischen Regierungschefs, die nach Straßburg kommen, halten nicht nur eine Rede, sie debattieren. Das heißt, sie reagieren – mehr oder weniger schlagfertig – auf Fragen, Anwürfe, Kritik der Abgeordneten.
Seit einiger Zeit kommen EU-Regierungschefs auch unabhängig vom Ratsvorsitz. Viktor Orbán hat sich zu einer Debatte über Ungarn einfach selbst eingeladen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder der niederländische Regierungschef Mark Rutte hatten eine Einladung. Sie kamen, so wie der neue polnische Premier Mateusz Morawiecki, um über ihre Vorstellung der Zukunft der EU zu sprechen. Viele der Besucher stellen das Parlament vor spezielle protokollarische Herausforderungen. Denn Staats- oder Regierungschefs kleiner oder besonders ferner Länder locken nicht so viele Abgeordnete in den Saal wie etwa Macron. Ein fast leerer Saal wird natürlich leicht als Unhöflichkeit empfunden. Doch die Parlamentarier können schwer hineingezwungen werden. Als Maltas Premier Joseph Muscat zum Abschluss der maltesischen EU-Präsidentschaft sprach, waren die Reihen so leer, dass Kommissionspräsident Juncker der Kragen platzte: Das Parlament sei „lächerlich“, sagte er, entschuldigte sich später aber. Beim Auftritt von Kanzler Sebastian Kurz, bei dem es ebenfalls zu drei Vierteln leer war, deutete er seinen Unmut nur indirekt an. Er werde nicht aussprechen, was er sich angesichts des leeren Saals denke, denn die wenigen Anwesenden wüssten es ohnehin, meinte Juncker.
Die größte Ansammlung von Staatschefs im Straßburger Parlament löste übrigens der Tod eines der ihren aus. Für Helmut Kohl gab es erstmals einen Staatsakt.