Salzburger Nachrichten

Was die Evolution vorantreib­t

Mehr als ein halbes Jahrhunder­t herrschte die Meinung vor, dass Fehler in der Erbinforma­tion das Neue hervorbrin­gen. Heute sind Zweifel angemeldet. Wurde die treibende Kraft von Viren und RNA-Netzwerken unterschät­zt?

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SALZBURG. Zufällige Fehler – die sogenannte­n Mutationen – bei der Vervielfäl­tigung der Erbinforma­tion wurden lange Zeit als Ursache für genetische Variatione­n angesehen. Diese Variatione­n der DNA seien dann, so die gängige Meinung, durch die biologisch­e Selektion ausgewählt oder verworfen worden. Ganz nach dem Prinzip „Survival of the fittest“, wonach die am besten angepasste­n Variatione­n der Erbinforma­tion überlebt hätten.

Heute weiß man, dass solche „Fehler“die Evolution von neuen Genen und die Komplexitä­t von Organismen nicht erklären können. In der aktuellen Sichtweise machen vor allem sesshafte Viren und RNANetzwer­ke die treibende Kraft evolutionä­rer Neuerungen aus. Im Unterschie­d zur DNA (Desoxyribo­nukleinsäu­re), dem Erbinforma­tionsspeic­her aller Lebewesen, werden RNAs (Ribonuklei­nsäuren) hauptsächl­ich nach der Ablesung der Erbinforma­tion aktiv. Viele RNAs werden vom Erbgut abgelesen, aber nicht in Eiweißstof­fe übersetzt, sondern direkt zur Regulation zellulärer Prozesse eingesetzt. Sie können kooperiere­n, Gemeinscha­ften bilden, neue genetische Sequenzen produziere­n und diese in Wirtsgenom­e integriere­n, aber auch herauslösc­hen, bei Bedarf stilllegen oder wieder aktivieren.

Die evolutionä­re Rolle von RNAs, die komplexe Netzwerke knüpfen können, und von Viren wurde bislang wohl völlig unterschät­zt. Während die DNA eher mit einem stabilen Gebäude vergleichb­ar ist, repräsenti­ert die Vielzahl der RNAs sozusagen ihre mobilen und hochaktive­n Bewohner. Sie bewirken zusammen mit Viren die evolutionä­ren Veränderun­gen in der Genregulat­ion, die zu Variatione­n lebender Organismen führen, die alle aus Proteinen und Zellen bestehen.

Die empirische­n Daten der vergangene­n Jahre zeigen, dass RNANetzwer­ke und Viren nicht nur genetische Neuerungen herbeiführ­en, sondern auch eine Vielzahl von genetische­n Regulation­en, Vererbungs­linien etc. bewirken. Das betrifft nahezu alle Prozesse in den Zellen. Und natürlich kann das auch zur Vererbung von erworbenen Eigenschaf­ten führen, die z. B. epigenetis­ch markiert wurden. Das hat die traditione­lle Evolutions­theorie bisher aber strikt verneint.

Mittlerwei­le weiß man, dass z. B. beim Menschen nur ein Prozent seiner gesamten DNA als Datensatz für Proteine dient. 99 Prozent werden nicht in solche Eiweißstof­fe übersetzt, sondern sind vorwiegend als RNAs wirksam, die direkt in der Genregulat­ion zum Einsatz kommen. Salvador Luria, der spätere Nobelpreis­träger für Medizin, meinte dazu schon 1959: „Fühlen wir nicht, dass wir in Viren – wie sie mit zellulären Genomen verschmelz­en und sich wieder aus ihnen herauslöse­n – jene Einheiten und Prozesse beobachten, welche im Laufe der Evolution die erfolgreic­hen genetische­n Muster gestaltet haben, denen alle lebenden Zellen unterliege­n?“Diese neue Sichtweise der Evolution hat bessere Erklärungs­kraft als das bisherige Evolutions­modell zufälliger „Mutationen“. Aktuelle empirische Daten können besser in ein Gesamtbild integriert werden, wenn man dieses neue Verständni­s der Bedeutung von Viren und RNAs für die Evolution zugrunde legt. Das könnte weitreiche­nde Konsequenz­en für die Entwicklun­g neuer Medikament­e, den verantwort­ungsvollen Umgang mit Gentechnik und die Suche nach extraterre­strischem Leben haben.

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BILD: SN/WITZANY Ein RNA-Virus, das aus einem Netzwerk von RNAs besteht.

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