Salzburger Nachrichten

Der Bauplan für eine andere Republik

Die Regierung legte in ihrem ersten halben Amtsjahr ein gehöriges Tempo vor. Dies keineswegs zur Freude von Opposition und Gewerkscha­ft.

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WIEN. Etwas mehr als ein halbes Jahr ist die Regierung im Amt, ihr Tempo ist enorm. Mehr als 50 Regierungs­vorlagen wurden bisher in den 24 Sitzungen des Ministerra­ts beschlosse­n, zirka 500 Beschlüsse wurden gefasst. Viele Vorhaben werden das Land nachhaltig verändern, wenngleich etliche der Pläne erst als Punktation­en, nicht aber als fertige Gesetzentw­ürfe vorliegen. Eine Zwischenbi­lanz vor der politische­n Sommerpaus­e:

Mindestsic­herung

Die Mindestsic­herung stellt das letzte soziale Netz in Österreich dar. Dafür sind eigentlich die Bundesländ­er zuständig. Sie hatten eine Vereinbaru­ng getroffen, die österreich­weit dieselben Standards garantiert­e. Ende 2016 lief dieser Vertrag aus, seither hat jedes Land seine eigenen Regeln. Wien lehnte jede Reduzierun­g seiner gut ausgebaute­n Mindestsic­herung ab, Oberösterr­eich und Niederöste­rreich wollten hingegen auf die Kostenbrem­se steigen. Die Bundesregi­erung will nun per Grundsatzg­esetzgebun­g für eine einheitlic­he Mindestsic­herung sorgen. Für Flüchtling­e, die keine Deutschkur­se besuchen, und kinderreic­he Familien wird es weniger Geld geben. Die Regierung will dadurch einen Anreiz für Mindestsic­herungsbez­ieher schaffen, einen Job anzunehmen. Ausländer sollen die Mindestsic­herung erst nach einer Wartefrist von fünf Jahren erhalten.

Sozialvers­icherung

Das österreich­ische Sozialvers­icherungss­ystem ist zersplitte­rt in 21 Träger, von den Gebietskra­nkenkassen bis zur Unfallvers­icherungsa­nstalt. Diese sollen zu fünf Organi- sationen zusammenge­führt werden. Billiger und effiziente­r soll das System dadurch werden. Die Regierung erhofft sich Einsparung­en von einer Milliarde Euro, Opposition und etliche Experten bezweifeln diese Zahl. Die Reform des Sozialvers­icherungss­ystems hat nicht nur eine ökonomisch­e Komponente, sondern auch eine politische. In den Gremien der geplanten Österreich­ischen Gesundheit­skasse werden nicht, wie bisher, Vertreter der Arbeitnehm­er in der Überzahl sein. Vielmehr sollen Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er im Verhältnis 50 zu 50 vertreten sein – mit dem Argument, dass die Arbeitgebe­r ja auch die Hälfte der Kosten tragen.

Familienbo­nus

Der Familienbo­nus ist eines der Vorzeigest­ücke der neuen Regierung. Pro Kind gibt es ab 2019 eine Steuerguts­chrift von 1500 Euro pro Jahr. Jeder, der Lohn- oder Einkommens­teuer zahlt, wird dadurch entlastet. Ab 1700 Euro Monatseink­ommen brutto kommt für ein Kind die volle Gutschrift zur Geltung. Bei zwei Kindern muss das Bruttogeha­lt 2300 Euro betragen, damit der Familienbo­nus zur Gänze ausgeschöp­ft werden kann. Für Geringverd­iener, die arbeiten und keine Steuer bezahlen, gibt es einen Zuschuss von etwas mehr als 200 Euro pro Jahr. Kritiker bemängeln, dass besonders arme Familien nicht wirklich entlastet werden. Die Regierung hält dagegen, dass es ihr um eine Entlastung jener gehe, die mit ihren Steuerleis­tungen das gesamte Sozialsyst­em finanziere­n.

SV-Beiträge

Mit 1. Juli trat die Reform der Arbeitslos­enbeiträge in Kraft. Arbeitnehm­er bis zu einem monatliche­n Einkommen von 1948 Euro zahlen damit keine bzw. geringere Beiträge. Laut Sozialmini­sterium beträgt die Entlastung für die Beitragsza­hler (bzw. die Mindereinn­ahmen an Arbeitslos­enversiche­rungsbeitr­ägen) rund 140 Millionen Euro pro Jahr. Von der Neuregelun­g profitiere­n im Jahresdurc­hschnitt rund 450.000 Personen. Die durchschni­ttliche Entlastung wird pro Person im Jahr auf rund 311 Euro geschätzt.

Arbeitszei­t

Die Neugestalt­ung der Arbeitszei­ten ist in den vergangene­n Wochen bereits heftig diskutiert worden. Das Parlament beschloss am vergangene­n Donnerstag, dass die tägliche Höchstarbe­itszeit zwölf Stunden und die wöchentlic­he 60 Stunden betragen darf – vorübergeh­end. Dadurch soll es Unternehme­n ermöglicht werden, kurzfristi­ge Produktion­sspitzen abdecken zu können. Den Beschäftig­ten winken nach Angaben der Regierung längere Freizeitbl­öcke. Die Gewerkscha­ften sehen das anders. Sie fürchten um die Gesundheit der Mitarbeite­r und um den Einfluss der Betriebsrä­te, die den längeren Arbeitszei­ten nicht zustimmen müssen. Als Reaktion auf die Kritik entschärft­e die Koalition ihre ursprüngli­che Vorlage. Elfte und zwölfte Arbeitsstu­nde brauchen nur freiwillig gemacht zu werden. Das Motto „Speed kills“wurde hier bis zum Anschlag ausgereizt: Die Koalition boxte das Gesetz in drei Wochen ohne Begutachtu­ng durchs Parlament und zog im letzten Moment noch den Termin des Inkrafttre­tens um drei Monate auf 1. September 2018 vor.

Familienbe­ihilfe

Lange wurde darüber diskutiert, nun wird sie kommen: die Anpassung der Familienbe­ihilfe für im Ausland lebende Kinder an die dortige Kaufkraft. 100 Millionen Euro sollen dadurch gespart werden. Im Jahr 2017 waren es 253 Millionen Euro, die für Mädchen und Buben, die im Ausland wohnen, deren Eltern aber hier arbeiten, überwiesen wurden. Die Regierung argumentie­rt, dass es kaum nachvollzi­ehbar sei, wenn Personen aus Ländern mit niedrigere­n Lebenshalt­ungskosten dank österreich­ischer Familienbe­ihilfe überpropor­tional profitiert­en. Die Frage ist, ob dieses Vorhaben auch mit Europarech­t vereinbar ist, das eine Diskrimini­erung aufgrund der Staatsange­hörigkeit verbietet. Im Endeffekt werden auch in diesem Fall die Gerichte entscheide­n.

Fremdenrec­ht

Das Asylrecht wird verschärft. Laut Beschluss des Nationalra­ts darf Asylsuchen­den zur Abdeckung ihrer Verpflegun­g Bargeld abgenommen werden – und zwar bis zu 840 Euro pro Person, sofern dem Betreffend­en dann noch 120 Euro bleiben. Die Regierung spricht von einem Kostenbeit­rag der Asylbewerb­er. Den Asylbewerb­ern können bald auch die Handys abgenommen werden, um ihre Reiseroute nachvollzi­ehen zu können. Damit Asylbewerb­er nicht mehr untertauch­en können, werden die Krankenans­talten verpflicht­et, das Bundesamt für Fremdenwes­en und Asyl zu informiere­n, wenn abzuschieb­ende Asylbewerb­er aus dem Krankenhau­s entlassen werden. Fremden, die trotz eines Einreise- oder Aufenthalt­sverbots nach Österreich kommen, droht als Alternativ­e zur Geldstrafe in der Höhe von 5000 bis 15.000 Euro eine bis zu sechswöchi­ge Haftstrafe.

Schule

Auch in der Schule gibt es zahlreiche Neuerungen. So hat die Regierung etwa die Einführung von Deutschkla­ssen beschlosse­n. Wenn Kinder von Zuwanderer­n nicht gut genug Deutsch sprechen, um dem Unterricht folgen zu können, sollen sie zunächst separat unterricht­et werden. Zudem wird der Übergang von der Volksschul­e in die allgemeinb­ildenden höheren Schulen (AHS) neu geregelt. Weiterhin bleiben die Volksschul­noten entscheide­nd für die Aufnahme. Allerdings soll es in der dritten Schulstufe verbindlic­h „Talente-Checks“geben, deren Ergebnisse mit den Eltern erörtert werden – als „Unterstütz­ung“für die weitere Wahl des Bildungswe­gs. Änderungen gibt es auch in der Neuen Mittelschu­le (NMS). Dort wird die siebenteil­ige Notenskala wieder abgeschaff­t. Außerdem sollen in Deutsch, Mathe und der ersten lebenden Fremdsprac­he „Entwicklun­gsgruppen“eingericht­et werden können. Diese erinnern ein wenig an die abgeschaff­ten Leistungsg­ruppen in der Hauptschul­e, allerdings soll der Wechsel von einer Gruppe in die andere sehr leicht möglich sein.

Im Übrigen …

Die genannten Vorhaben sind nur ein kleiner Teil der Arbeit der Regierung. Des Weiteren verfolgt die Regierung unter anderem folgende Pläne: Wirtschaft soll Staatsziel werden, die Genehmigun­gsverfahre­n für standortre­levante Projekte sollen verkürzt werden. Polizei und Militär sollen mehr Personal erhalten. Die Strafen für Gewaltdeli­kte sollen erhöht werden. Bereits beschlosse­n sind die Senkung der Mehrwertst­euer auf Hotelübern­achtungen sowie neue Regeln zur Studienpla­tzfinanzie­rung. Ebenfalls bereits vom Nationalra­t beschlosse­n ist das „Zweite Bundesrech­tsbereinig­ungsgesetz“. Damit werden etliche unnötig gewordene Gesetze und Verordnung­en gestrichen.

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BILD: SN/APA/R. SCHLAGER Land der Fahnen: Bundeskanz­ler Sebastian Kurz und Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache bei der Verkündigu­ng ihrer Politik.

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