Salzburger Nachrichten

Erdo˘gan braucht Europa dringender denn je

Am Montag will der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan seinen Amtseid leisten und seine neue Regierung vorstellen. Was ist sein Kurs?

- GERD HÖHLER

ISTANBUL. Für die Beziehunge­n der Türkei zur Europa waren die Parlaments­und Präsidente­nwahlen vor zwei Wochen ein Schritt zurück. Mit der Einführung des Präsidials­ystems entfernt sich die Türkei noch weiter von den Kopenhagen­er Kriterien, die jeder EU-Beitrittsk­andidat erfüllen muss. Recep Tayyip Erdoğans Alleinherr­schaft ist mit der Gewaltente­ilung, wie man sie in der Europäisch­en Union versteht, unvereinba­r. Eine Integratio­n der Türkei in die EU sei „zumindest für die kommenden Jahre keine realistisc­he Option mehr“, stellte Kati Piri fest, die Türkei-Berichters­tatterin im Europäisch­en Parlament. Stattdesse­n werde man zu einer „pragmatisc­hen, geschäftsm­äßigen Beziehung“mit der Türkei kommen.

Erdoğan selbst hatte im Wahlkampf zwar immer wieder feindselig­e Töne gegenüber Europa und dem Westen angeschlag­en, zugleich aber versichert, sein Land werde weiter auf den EU-Beitritt hinarbeite­n. Erdoğans Verbündete­r, der Ultranatio­nalist Devlet Bahçeli, will dagegen mit der EU brechen. Seine rechtsextr­eme MHP schnitt bei der Wahl unerwartet stark ab, Erdoğans AKP ist im Parlament auf deren Unterstütz­ung angewiesen. Das engt seinen Spielraum in der Europapoli­tik ein.

Bewegen wird sich da aber in nächster Zeit ohnehin nicht viel. Der Europäisch­e Rat stellte bei seinem jüngsten Treffen Ende Juni fest, die Beitrittsv­erhandlung­en seien „praktisch zum Stillstand gekommen“. Weder sei an die Eröffnung weiterer Verhandlun­gskapitel zu denken noch an Gespräche über eine Erweiterun­g der Zollunion.

Das bedeutet aber keine Funkstille zwischen Brüssel und Ankara. Die Türkei bleibt ein wichtiger Partner. Das gilt für das Flüchtling­sthema, die Sicherheit­spolitik und den gemeinsame­n Kampf gegen den Terror. Auch Erdoğan kann kein Interesse daran haben, die Brücken nach Europa abzubreche­n. Eine politische Herzenssac­he war ihm die EU, über die er in den 90er-Jahren verächtlic­h als „christlich­er Klub“sprach, noch nie. Aber er braucht sie. Erdoğan sind jene drei Milliarden Euro, die der Europäisch­e Rat jetzt als Finanzhilf­e für die Versorgung von Flüchtling­en für die Türkei bewilligte, hoch willkommen. Erdoğan weiß auch, in welch hohem Maß die türkische Wirtschaft auf Europa angewiesen ist. Mehr als 70 Prozent der ausländisc­hen Direktinve­stitionen kamen im vergangene­n Jahr aus der EU. Sie ist für die türkischen Exporteure der wichtigste Absatzmark­t und der bedeutends­te Lieferant.

Die Europapoli­tikerin Piri mahnt, die EU müsse jetzt ihre „Soft Power“einsetzen, um die türkische Zivilgesel­lschaft zu unterstütz­en.

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Präsident Recep T. Erdoğan. BILD: SN/AFP

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