60 Minuten Kicken ist genug!
Selten hat der eiskalte Neoliberalismus seine hässliche Fratze so ungeniert gezeigt wie bei dieser Fußball-WM. Schon mehrmals im laufenden Turnier musste man miterleben, dass über die Köpfe der sichtlich betroffenen Kicker hinweg deren Arbeitszeit von 90 auf 120 Minuten ausgedehnt wurde. Und das ohne Überstundenzuschläge, ohne vorherige Konsultierung von Betriebsrat, ÖGB und Arbeiterkammer, ohne die geringste Rücksicht auf die psychische und physische Belastung der Fußballer.
Die Opfer dieser ausbeuterischen Praxis sind völlig wehrlos. Dass die Arbeitszeitverlängerung um schreibe und lese 30 (!) Prozent auf freiwilliger Basis erfolge, ist eine lächerliche Schutzbehauptung der Arbeitgeberseite. Zwar sind einige Arbeitnehmer aus Protest gegen das Arbeitszeit-Diktat vorzeitig von der WM abgereist – etwa die gesamte deutsche Kollegenschaft. Aber diesen Mut bringen nicht alle auf. Sie machen weiter, obwohl der 120-Minuten-Tag mitunter ohne jede Vorlaufzeit angeordnet wird. Oft entscheidet sich erst in letzter Sekunde, ob es eine Verlängerung gibt oder nicht. Das spricht jedem Arbeitnehmerschutz hohn.
Am Ende der 120-Minuten-Schicht halten die völlig ausgelaugten Spieler zumeist Betriebsversammlungen am Mittelkreis ab, aber dann ist es natürlich zu spät. Ja, es kommt sogar vor, dass die Ausbeutung der kickenden Klasse noch weitergeht und (eine weitere sinistre Erfindung des Turbofußballismus!) ein Elferschießen angeordnet wird.
Die Erfahrung zeigt, dass die Hälfte der beteiligten Spieler nach dieser abermaligen Arbeitszeitverlängerung völlig erschöpft und weinend auf der nackten Rasenerde zusammenbricht. Die andere Hälfte jubelt zwar, aber das sind sicher bezahlte Unternehmer-Büttel.
Wie groß die Angst der Spieler (zumal der Tormänner) vor dieser Flexibilisierung der Arbeitszeit unter dem verharmlosenden Titel „Elfmeterschießen“ist, hat der österreichische Sozialrechtler Peter Handke in einer viel beachteten Studie herausgearbeitet.
Ein Glück, dass die gewerkschaftlich bestens organisierten heimischen Fußballer die Qualifikation für diese WM der arbeitsrechtlichen Schande verweigert haben. Nach guter österreichischer Tradition hat vor jeder Verlängerung der Fußballer-Arbeitszeit ein paritätisch besetztes Schlichtungsgremium der Sozialpartner zu tagen. Kommt es dabei zu keinem konsensualen Ergebnis, hat jede Verlängerung über die kollektivvertraglich festgelegte Grenze von 90 Minuten hinaus zu unterbleiben.
Schließlich zeigt sich bei der WM in Russland ganz deutlich, dass die körperliche Belastung der Fußballer schon vor der 90. Minute ganz enorm ist. Vielen Spielern stehen von Beginn an die Haare zu Berge. Manche – um noch einmal auf die deutschen Kollegen zu sprechen zu kommen – schleppen sich kraftlos über den Platz. Und das brasilianische Flexibilisierungsopfer Neymar kann sich während der Spiele kaum auf den Beinen halten, sondern fällt andauernd und ohne jede Fremdeinwirkung hin. Muss das wirklich sein? Ist es das, was die unersättlichen FIFA-Bosse wollen?
Die soziale Vernunft spricht nicht für eine Verlängerung, sondern für eine Verkürzung der Fußballer-Arbeitszeit. Ist ja auch völlig logisch: Je kürzer der einzelne Fußballer arbeitet, auf desto mehr Kollegen kann die vorhandene Arbeit gerechterweise verteilt werden.
Der ÖFB wird daher bei der nächsten FIFA-Welttagung ein Konzept für eine Fußballspielverkürzung bei vollem Torausgleich von 90 auf 60 Minuten vorlegen. Experten haben errechnet, dass die Zahl der Spieler pro Mannschaft dadurch von elf auf 14,7 erhöht werden könnte. Man kann sich vorstellen, wie das die Arbeitslosigkeit senkt und den Umkleidekabinenbau ankurbelt.