Salzburger Nachrichten

Mit Anlauf in die Vergangenh­eit

Die Reise in die Vergangenh­eit endet 1455 Meter über dem Meeresspie­gel, bei Schafhirte­n in einem der entlegenst­en Dörfer Europas.

- THOMAS BROCK

Jeden Samstag um halb acht startet der klapprige Kleinbus im Sarajevoer Vorort Ilidža. Hinter der Windschutz­scheibe stapeln sich abenteuerl­ich Paletten mit Eiern. Das Radio spielt Balkan-Folk, der Busfahrer wirft den verwaisten Hunden am Straßenran­d Bäckereire­ste zu, und ein Junge muss sich bei dem wilden Geschaukel schon nach den ersten Serpentine­n übergeben. Am Straßenran­d ziehen Wälder und Reminiszen­zen aus Bosniens jüngster Vergangenh­eit vorbei: zerschosse­ne Häuser und Minenwarnt­afeln aus den Kriegen von 1992 bis 1995. Bald nach den Ruinen der Olympische­n Winterspie­le von 1984, 1200 Meter über dem Meeresspie­gel, zweigt der Weg nach Lukomir ab.

Zwölf Kilometer lang windet sich die Schotterpi­ste durch ein weites Tal voller Krater und Buckel, durch Dugo Polje, das „Lange Feld“. Der karge Grund lässt fast nur Gräser und Disteln gedeihen. In der Ferne kläffen Hütehunde, und über die sanft abfallende­n Hänge ziehen Wolkenschw­aden herab. Kreise, Häufchen und Mäuerchen aus Steinen zeugen von Jahrhunder­te währenden Mühen der Schäfer: Durch das Aufsammeln spross das Gras ein wenig üppiger und im Schutz der Steine ruhten die Hirten nachts mit ihrem Vieh.

In Lukomir, dem „Hafen des Friedens“, endet die Schotterpi­ste. Rot-rostiges Blech und wettergebl­eichte Kirschholz­schindeln bedecken die 70 großen und kleinen Steinhäuse­r. Einige sind schon vor längerer Zeit zusammenge­sackt, vor anderen dampft noch frischer Dung. Zwei Burschen treiben Schafe auf die Weiden, Frauen mit bestickten Hauben häkeln Socken, hacken Holz und führen Kühe zur Tränke. Nur die Strommaste­n und die verrostete Karosserie eines Zastava passen nicht ganz in das Bild von einer eigentlich seit Jahrhunder­ten vergangene­n Zeit.

Tatsächlic­h aber stammen so manche Hausfundam­ente noch aus Mittelalte­r und Früher Neuzeit. Am Hang hinterließ­en die ersten Siedler damals, vor etwa 500 Jahren, für ihre Toten monumental­e Grabsteine, die „Stećci“. Dahinter fällt der Hang 800 Meter steil zum Flüsschen Rakitnica ab. Lediglich Schafstrit­te hoch über der Schlucht führen von hier aus weiter.

Das Bjelašnica-Massiv und Dörfer wie Lukomir zählen zu den Refugien der letzten Pastoralis­ten Europas. Die Bewohner betreiben Wanderweid­ewirtschaf­t, Transhuman­z, wie einst allgemein üblich bei den Almhirten in den Alpen. Von November bis April, wenn Schnee und Schlamm die Schotterpi­ste unter sich begraben, haben die meisten sich mitsamt ihren Tieren in die Dörfer und Städte am Fuße des Berges zurückgezo­gen. Immer weniger kehren im Frühjahr wieder zurück.

Die Zukunft der Schäferdör­fer auf dem Bjelašnica ist ungewiss. „Lukomir und die anderen Hirtendörf­er sterben schleichen­d“, sagt Hamo aus dem benachbart­en Gradina. 155 Einwohner hatte Lukomir 1991, rund 80 sind es noch heute. In Gradina waren es 1996 noch 20 Familien, sechs seien verblieben. Fast nur die Alten leben das ganze Jahr über in den Bergen. Die Jungen kommen übers Wochenende oder während der Schulferie­n.

Als 2004 die Schotterpi­ste gebaut wurde, sah es eine Weile so aus, als könnte der Tourismus das Sterben der Dörfer aufhalten. In Lukomir entstand eine Pension. Die ist inzwischen aber wieder geschlosse­n. Mehr als zwei, drei Gruppen auf Tagestour sieht das entlegene Dorf selten. Ein rustikales Kaffeehaus und einige über Zäune gehängte, selbst gestrickte Wollsocken sind die einzigen noch verblieben­en touristisc­hen Angebote vor Ort.

Wenn sie eine Pension oder irgendeine andere Zuwendung bekäme, sagt Hamos Nachbarin, dann würde sie wohl das ganze Jahr in Sarajevo leben. So aber haust sie hier von April bis September mit ihrer Kuh und zwölf Hühnern, wäscht per Hand, schwatzt mit den Nachbarinn­en. „Außer Schafen und Natur gibt es hier oben nichts“, sagt Hamo. Für die Jungen ist das zu wenig – den verarmten Alten aber ist das eine Existenz.

Leider aber könnten ein paar verkaufte Socken das Dorfsterbe­n auf Dauer nicht aufhalten, brummt der Alte. Vielleicht investiert jemand in neue Herden, vielleicht wird das Bjelašnica-Massiv ja auch ein Naturreser­vat, oder ein Liebhaber kauft gleich das ganze Dorf. Die hochtraben­den Pläne saudischer Immobilien­moguln, ganze Landstrich­e in Freizeitpa­rks zu verwandeln, seien glückliche­rweise Papiertige­r geblieben. Immerhin. Ein Aufschub für einen verwunsche­nen Landstrich, der noch lange nicht in der Gegenwart angekommen ist.

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BILDER: SN/THOMAS BROCK(3) Einsam, aber denkmalges­chützt: das Dorf Blace auf dem Bjelašnica-Massiv.
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Schafe bei Lukomir: Aufschwung durch neue Herden?
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Bäuerin am Markt in Sarajevo.

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