Auf den Spuren des nächsten Sommerhits
Anatomie des Ohrwurms. Sie kommen aus Puerto Rico oder umrunden von Südkorea aus die Welt. Lässt das Internet eine neue Art globaler Hits gedeihen?
Mit dem größten Hit des vergangenen Sommers konnten 13 Millionen Menschen zuerst einmal gar nichts anfangen. Genau das aber bescherte ihm einen weiteren Rekord. Bei Shazam, einem digitalen Musikdienst, der jede Melodie identifizieren kann, mit der man ihn füttert, gingen 13 Millionen Anfragen zu diesem Song ein. Kein anderer Titel musste 2017 öfter entschlüsselt werden als „Despacito“von Luis Fonsi und Daddy Yankee.
Dein Sommerhit, das unbekannte Wesen: Wie es funktioniert, dass ein Lied plötzlich zum Welterfolg wird, das haben viele unterschiedliche Studien zu analysieren versucht. Ebenso viele verschiedene Formeln für den großen Pophit wurden aufgestellt. Spätestens mit Luis Fonsi stellt sich aber auch eine neue Frage: Ist das Internet im Begriff, die PopWeltkarte nachhaltig zu verändern? Immerhin sicherte sich mit „Despacito“ein spanisch gesungenes Lied aus Puerto Rico einen Spitzenplatz in einem Umfeld, in dem sonst die Pop-Industrienationen Großbritannien und USA den Ton angeben. Die Spitzenreiter in der Gesamtwertung des Jahres 2017 hießen Ed Sheeran und Taylor Swift. Bei großen Internet-Musikdiensten wie Spotify aber wurde kein anderes Lied öfter angeklickt als „Despacito“. Das zugehörige Video hält auf YouTube mit 5,24 Milliarden Aufrufen mittlerweile den Rekord als Clip mit den meisten Aufrufen in der Geschichte von YouTube.
Wenn über Plattformen im Netz Musik von jeder Weltgegend aus gleich schnell zum Erfolg starten kann, dann könnte eine neue Vielfalt in den Hitparaden blühen. So argumentierten zumindest Experten kürzlich anlässlich der Musikmesse Midem in Cannes: Der nächste Sommerhit könnte bereits aus China kommen, oder aus Nigeria, so lautete die These einer Midem-Studie. Auch Südkorea gibt Beispiele her: 2013 hatte der Rapper Psy alle YouTube-Rekorde gesprengt. Und heuer landete die Boyband BTS an der Spitze der USCharts. Wird es künftig noch mehr Überraschungen aus Regionen geben, die vom Pop-Mainstream einst links liegen gelassen wurden?
So neu sei das Phänomen gar nicht, entgegnet der Ethnomusikologe David-Emil Wickström auf die Frage. Schon vor mehr als 100 Jahren habe etwa der Tango von Südamerika aus die Welt erobert. Nur sei der Trend damals nicht via Internet um den Globus gelangt, sondern im Gepäck der Auswanderer, die in Südamerika europäische Traditionen mit den Musiken der neuen Welt vermischten. Auch im Pop sei der Latin-Hit nicht erst in der Internet-Ära erfunden worden. In der Vermischung von Traditionellem und Neuem aber lasse sich dennoch ein Prinzip sehen, das vielen Hits zum Erfolg verhelfe.
David-Emil Wickström lehrt an der Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim. Die Frage, ob es Formeln für den Welthit gibt, beschäftigt auch seine Studierenden. Berechnen lasse sich der Erfolg aber letztlich kaum: „Wie ein Lied ankommt, hängt letztlich stark von den Vorlieben und Hörbiografien der Konsumenten ab.“Allerdings hätten viele Hits die Gemeinsamkeit, „dass sie es schaffen, vertraute Elemente mit Momenten der Überraschung, des Unbekannten zu kombinieren“. Das könne ein origineller Umgang mit einer bekannten Schablone sein: „Mozart und Haydn nutzten die Sonatenform, schufen aber Spannung, indem sie Möglichkeiten fanden, subtil etwas Neues einzubauen.“Es könne aber auch eine Klangfarbe sein, die Aufmerksamkeit errege, wie der Synthesizersound in der 80er-Jahre-Hymne „Jump“von Van Halen, „der in einem Heavy-Metal-Song damals streng genommen nichts verloren gehabt hätte“. Oder der Reiz stecke in einer eigenwilligen Basslinie, wie im Song „No Roots“von Alice Merton, einer Absolventin der Mannheimer Popakademie. In Europa erreichte sie 2016 mit ihrer ersten Single mehrere Spitzenplätze.
Bei „Despacito“wiederum habe die Reibung zwischen Vertrautem und Ungewohntem mehrfach funktioniert. Als erfahrene Songschreiber hätten Luis Fonsi und seine Co-Autorin Erika Ender Elemente aus Salsa, Cumbia und anderen Latin-Stilen in ein Harmoniegerüst verpackt, das im Pop zu den Standardformeln zähle, erläutert der Musikwissenschafter. „Die gleiche Akkordfolge finden Sie in Hits wie ,Listen To Your Heart‘ von Roxette oder ,Poker Face‘ von Lady Gaga.“Ein weiteres bewährtes Rezept finde sich im Text: Schließlich gehe es in dem Lied um Sex. Weil der spanische Text aber nicht überall auf der Welt verstanden werde, sei die zweite Anforderung an einen Hit gleich mit erfüllt: der Reiz des Unbekannten.
Besonders markant sei indes der Beat, der den Song antreibe: Als Reggaeton wurde die karibische Mischung aus Hip-Hop, Reggae und Latin-Rhythmen berühmt, die in Puerto Rico kultiviert wurde. Von dort aus habe sich Reggaeton „allmählich in den Mainstream“geschlichen, sagt DavidEmil Wickström. Der prägnante Beat sei in Justin Biebers Hit „Sorry“ebenso zu hören wie in Ed Sheerans „Shape Of You“, dem Gesamtsieger in den globalen Hitparaden 2017.
Was zur Frage führt, wie der Sommerhit 2018 klingen wird. Hier sind wieder die Big-Data-Experten am Zug. Unternehmen wie „Next Big Sound“haben sich darauf spezialisiert zu erkennen, wann in den sozialen Netzwerken der Wirbel um eine Band so anschwillt, dass sich ein Hype entwickeln könnte. Auch Shazam hat aus den jüngsten Suchanfragen bereits vorausberechnet, wer heuer für Überraschungen sorgen könnte: Werden Cardi B oder Nicky Jam mit J Balvin die Latin-Welle fortsetzen? Bauen DJStar Calvin Harris und Dua Lipa ihren Vorsprung aus? Oder gehört der Sommer 2018 dem US-Rapper Drake? Neun Namen stehen auf Shazams Prognose-Liste.
Dass das Internet aber tatsächlich Neugier auf neue Klänge fördere, sei zu bezweifeln, sagt der Musikforscher Wickström. „Die Algorithmen, die bei YouTube oder Spotify Musikempfehlungen berechnen, legen mir ja nichts Neues nahe. Sie schlagen Musik vor, die so ähnlich klingt wie das, was ich soeben gehört habe.“Also liege es weiterhin an den Hörern, sich auf die Suche nach ungewöhnlichen Sounds zu machen.
Eine Globalisierung der Klänge sei eher hinter den Kulissen der Popindustrie spürbar: „Immer öfter stehen hinter einem Hit internationale Autorenteams.“Die Popwelt werde somit durchlässiger – auch in überraschende Richtungen: Ein Absolvent der Popakademie, ein Musiker aus dem deutschen Aachen, habe mehrere Nummer-einsHits verbucht, erzählt Wickström. Allerdings weder in Europa noch in den USA: „Er schreibt Hits für den koreanischen und japanischen Musikmarkt.“
David-Emil Wickström Musikwissenschafter BILD: SN/W. CHARYTONAWA / GOETHE-INSTITUT MINSK Auf die Suche nach Überraschungen müssen sich die Hörer auch im Netz selbst machen.