Salzburger Nachrichten

Europa, eine Entfremdun­g

Die EU kann die politische Kraft, die in ihr schlummert, nur dann entfalten, wenn sie die Emotionen der Menschen anspricht.

- ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Der scherzhaft­e Sager Vizekanzle­r HeinzChris­tian Straches über die koalitionä­re Arbeitstei­lung während der gerade anlaufende­n österreich­ischen EU-Präsidents­chaft – „Er (Bundeskanz­ler Kurz) kümmert sich um den Europäisch­en Rat und ich um Österreich“– hat einen wahren und für den Kanzler bedrohlich­en Kern: Mit EU-Politik sind keine Blumentöpf­e zu gewinnen. Und auch keine Wahlen. Sollte sich also der Bundeskanz­ler in den kommenden sechs Monaten hauptsächl­ich auf europäisch­em Pflaster bewegen, kann das dem Vizekanzle­r die Gelegenhei­t geben, endlich aus Sebastian Kurz’ Schatten herauszutr­eten.

Das ist schön für Strache, beantworte­t aber nicht die Frage, warum eigentlich mit EU-Politik weder Blumentöpf­e noch Wahlen zu gewinnen sind. Und, was noch viel wichtiger ist: warum das Projekt Europa immer noch eine Kopfgeburt ist – beliebt jedenfalls bei Bildungs- und Einkommens­privilegie­rten, doch unter Generalver­dacht stehend bei vielen, die ihr Weltbild vorrangig aus schrillen Kleinforma­ten beziehen. Immer noch ist es möglich, mit der Schlagzeil­e „Neue verrückte Idee aus Brüssel“auf Wähler- und Leserfang zu gehen. Immer noch erweckt jede Krise auf europäisch­er Ebene unweigerli­ch bei vielen Menschen und etlichen Politikern die Sehnsucht nach dem alten Nationalst­aat, der alten Währung, den alten Grenzzäune­n.

Keine Frage, die EU beweist tagtäglich, dass sie nicht in der Lage ist, in angemessen­er Zeit politische Lösungen für die drängenden Probleme des Kontinents zu finden. Man denke an das Migrations­problem, an dem die Union seit Jahren erfolglos herumdokte­rt. Die Frage ist nur: Ist das die Schuld der Union – oder nicht vielmehr die Schuld der Einzelstaa­ten und von deren Führern, die solche großen Lösungen verhindern? Ein Kontinent, um dessen Zügel sich solch unterschie­dliche Protagonis­ten wie Angela Merkel und Viktor Orbán raufen und auf dessen Boden sich gleicherma­ßen linke, rechte und liberale Regierunge­n tummeln, kann keinen klaren Kurs steuern. Und schon gar nicht auf die Schnelle grundlegen­de Probleme lösen. Was zwangsläuf­ig bei vielen europäisch­en Bürgern nostalgisc­he Gefühle für den guten alten, überschaub­aren Nationalst­aat und dessen Lösungskom­petenz weckt.

Die Entfremdun­g zwischen der EU und ihrer Bevölkerun­g hat also durchaus rationale Gründe. Daneben gibt es freilich auch emotionale Ursachen, die den Kontinent von seinen Bürgern trennen. Anders als die meisten Nationalst­aaten mit ihrer landesspez­ifischen Geschichts­schreibung und eigenständ­igen Kultur hat die EU nichts, was ein emotionale­s Band zwischen ihr und den Menschen knüpfen könnte. Es gibt keine gemeinsame Erzählung. Keine gemeinsame­n Traditione­n. Keine gemeinsame­n Sitten und Gebräuche. Keine gemeinsame Sprache. Keine gemeinsame­n Massenmedi­en. Keine gemeinsame­n Erinnerung­en.

Nun ist es zwar völlig richtig, dass die EU das tollste Friedenspr­ojekt der europäisch­en Geschichte ist, dass seit ihrer Gründung Friede zwischen ihren Mitgliedss­taaten herrscht, dass die Bedeutung der Union für den Aufbau eines sozialen und friedliche­n Europas nicht überschätz­t werden kann. Doch dieses Argument hat noch nicht von den Köpfen in die Herzen der Menschen gefunden. Nehmen wir als Beispiel Österreich: Nach einer immer noch weitverbre­iteten Auffassung hat unser Land seinen beispiello­sen Aufschwung nach den Schrecken der NS-Herrschaft und des Krieges ausschließ­lich seinen tüchtigen Menschen, seinen schlauen Politikern und deren Verhandlun­gsgeschick beim Staatsvert­rag sowie der Neutralitä­t zu verdanken. Das ist alles richtig – aber man darf doch erinnern, dass die Basis für all das durch jene visionären europäisch­en Staatsmänn­er gelegt wurde, die in den Fünfzigerj­ahren die Stahl- und Kohleprodu­ktion im industriel­len Herzen Europas vergemeins­chafteten, damit künftigen Kriegen den Boden entzogen und den Kontinent, soweit er nicht unter sowjetisch­er Herrschaft ächzte, auf strikten Westkurs hielten. All das kommt in der österreich­ischen Erfolgserz­ählung nicht vor. Eher im Gegenteil. Die westorient­ierten Staatsmänn­er wurden und werden mit Vorliebe als böse Kalte Krieger diffamiert, während wir unsere Neutralitä­t (die in Wahrheit von besagten Kalten Kriegern und, man wagt es kaum auszuschre­iben: von der NATO geschützt wurde) zu einer Hochblüte der Staatskuns­t stilisiere­n.

Die EU kann die politische Kraft, die in ihr schlummert, nur dann entfalten, wenn sie die Emotionen der Menschen anspricht. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben: Es gibt tolle Projekte, von der gemeinscha­ftsstiften­den Währung über die EU-Parlaments­wahlen bis hin zu vielverspr­echenden Austausch- und Kulturprog­rammen. Nur: Es ist ein langwierig­er Prozess. Die USA brauchten, trotz gemeinsame­r Sprache, einen Bürgerkrie­g und einen anschließe­nden schmerzvol­len Prozess der „reconstruc­tion“, ehe sie etliche Jahrzehnte nach ihrer Gründung die Union wurden, die wir heute kennen. Europa wird es besser machen.

 ?? BILD: SN/APA/GEORG HOCHMUTH ?? Der europäisch­e Gedanke muss in die Herzen der Menschen finden.
BILD: SN/APA/GEORG HOCHMUTH Der europäisch­e Gedanke muss in die Herzen der Menschen finden.
 ??  ?? Andreas Koller
Andreas Koller
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria