Europa, eine Entfremdung
Die EU kann die politische Kraft, die in ihr schlummert, nur dann entfalten, wenn sie die Emotionen der Menschen anspricht.
Der scherzhafte Sager Vizekanzler HeinzChristian Straches über die koalitionäre Arbeitsteilung während der gerade anlaufenden österreichischen EU-Präsidentschaft – „Er (Bundeskanzler Kurz) kümmert sich um den Europäischen Rat und ich um Österreich“– hat einen wahren und für den Kanzler bedrohlichen Kern: Mit EU-Politik sind keine Blumentöpfe zu gewinnen. Und auch keine Wahlen. Sollte sich also der Bundeskanzler in den kommenden sechs Monaten hauptsächlich auf europäischem Pflaster bewegen, kann das dem Vizekanzler die Gelegenheit geben, endlich aus Sebastian Kurz’ Schatten herauszutreten.
Das ist schön für Strache, beantwortet aber nicht die Frage, warum eigentlich mit EU-Politik weder Blumentöpfe noch Wahlen zu gewinnen sind. Und, was noch viel wichtiger ist: warum das Projekt Europa immer noch eine Kopfgeburt ist – beliebt jedenfalls bei Bildungs- und Einkommensprivilegierten, doch unter Generalverdacht stehend bei vielen, die ihr Weltbild vorrangig aus schrillen Kleinformaten beziehen. Immer noch ist es möglich, mit der Schlagzeile „Neue verrückte Idee aus Brüssel“auf Wähler- und Leserfang zu gehen. Immer noch erweckt jede Krise auf europäischer Ebene unweigerlich bei vielen Menschen und etlichen Politikern die Sehnsucht nach dem alten Nationalstaat, der alten Währung, den alten Grenzzäunen.
Keine Frage, die EU beweist tagtäglich, dass sie nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit politische Lösungen für die drängenden Probleme des Kontinents zu finden. Man denke an das Migrationsproblem, an dem die Union seit Jahren erfolglos herumdoktert. Die Frage ist nur: Ist das die Schuld der Union – oder nicht vielmehr die Schuld der Einzelstaaten und von deren Führern, die solche großen Lösungen verhindern? Ein Kontinent, um dessen Zügel sich solch unterschiedliche Protagonisten wie Angela Merkel und Viktor Orbán raufen und auf dessen Boden sich gleichermaßen linke, rechte und liberale Regierungen tummeln, kann keinen klaren Kurs steuern. Und schon gar nicht auf die Schnelle grundlegende Probleme lösen. Was zwangsläufig bei vielen europäischen Bürgern nostalgische Gefühle für den guten alten, überschaubaren Nationalstaat und dessen Lösungskompetenz weckt.
Die Entfremdung zwischen der EU und ihrer Bevölkerung hat also durchaus rationale Gründe. Daneben gibt es freilich auch emotionale Ursachen, die den Kontinent von seinen Bürgern trennen. Anders als die meisten Nationalstaaten mit ihrer landesspezifischen Geschichtsschreibung und eigenständigen Kultur hat die EU nichts, was ein emotionales Band zwischen ihr und den Menschen knüpfen könnte. Es gibt keine gemeinsame Erzählung. Keine gemeinsamen Traditionen. Keine gemeinsamen Sitten und Gebräuche. Keine gemeinsame Sprache. Keine gemeinsamen Massenmedien. Keine gemeinsamen Erinnerungen.
Nun ist es zwar völlig richtig, dass die EU das tollste Friedensprojekt der europäischen Geschichte ist, dass seit ihrer Gründung Friede zwischen ihren Mitgliedsstaaten herrscht, dass die Bedeutung der Union für den Aufbau eines sozialen und friedlichen Europas nicht überschätzt werden kann. Doch dieses Argument hat noch nicht von den Köpfen in die Herzen der Menschen gefunden. Nehmen wir als Beispiel Österreich: Nach einer immer noch weitverbreiteten Auffassung hat unser Land seinen beispiellosen Aufschwung nach den Schrecken der NS-Herrschaft und des Krieges ausschließlich seinen tüchtigen Menschen, seinen schlauen Politikern und deren Verhandlungsgeschick beim Staatsvertrag sowie der Neutralität zu verdanken. Das ist alles richtig – aber man darf doch erinnern, dass die Basis für all das durch jene visionären europäischen Staatsmänner gelegt wurde, die in den Fünfzigerjahren die Stahl- und Kohleproduktion im industriellen Herzen Europas vergemeinschafteten, damit künftigen Kriegen den Boden entzogen und den Kontinent, soweit er nicht unter sowjetischer Herrschaft ächzte, auf strikten Westkurs hielten. All das kommt in der österreichischen Erfolgserzählung nicht vor. Eher im Gegenteil. Die westorientierten Staatsmänner wurden und werden mit Vorliebe als böse Kalte Krieger diffamiert, während wir unsere Neutralität (die in Wahrheit von besagten Kalten Kriegern und, man wagt es kaum auszuschreiben: von der NATO geschützt wurde) zu einer Hochblüte der Staatskunst stilisieren.
Die EU kann die politische Kraft, die in ihr schlummert, nur dann entfalten, wenn sie die Emotionen der Menschen anspricht. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben: Es gibt tolle Projekte, von der gemeinschaftsstiftenden Währung über die EU-Parlamentswahlen bis hin zu vielversprechenden Austausch- und Kulturprogrammen. Nur: Es ist ein langwieriger Prozess. Die USA brauchten, trotz gemeinsamer Sprache, einen Bürgerkrieg und einen anschließenden schmerzvollen Prozess der „reconstruction“, ehe sie etliche Jahrzehnte nach ihrer Gründung die Union wurden, die wir heute kennen. Europa wird es besser machen.