„Freiwilligkeit ist eine Farce“
ÖGB-Chef Wolfgang Katzian über die zwölfte Arbeitsstunde und die fünfte Urlaubswoche.
SN: Die Regierung will die Übererfüllung von EU-Normen vermeiden. Die Wirtschaft betrachtet offenbar die fünfte Urlaubswoche als Übererfüllung. Befürchten Sie eine Debatte über Urlaubskürzungen? Wolfgang Katzian: Aufgrund der Entwicklungen der letzten Zeit bleibt mir nichts anderes übrig, als solche Dinge ernst zu nehmen. Offenbar geht es hier darum, alle Bereiche, wo Österreich voranliegt, zur Disposition zu stellen. Dabei sind ja viele von diesen EU-Mindestvorschriften eingeführt worden, um angesichts der EU-Erweiterung Schutznormen zu schaffen. Das kann man doch jetzt nicht umdrehen und sagen: Wir sind die Übererfüller, wir müssen unsere sozialen Errungenschaften streichen. SN: Ich nehme an, die Gewerkschaft würde auf die Barrikaden steigen, sollte die fünfte Urlaubswoche angeknabbert werden? Da bräuchte die Gewerkschaft gar nichts zu unternehmen, da wäre in diesem Land Feuer am Dach. Wir erleben eine massive Verdichtung des Arbeitslebens, das Tempo ist gestiegen, die psychischen Belastungen nehmen zu. Krankheiten wie Burnout sind ja keine Erfindung der Gewerkschaft. Daher werden Phasen des Urlaubs, der Regeneration, der Wochenendruhe immer wichtiger. SN: Womit wir beim ZwölfStunden-Tag sind. Warum haben denn die Argumente, die Sie jetzt aufgezählt haben, nichts gezählt, als der damalige Bundeskanzler Christian Kern den Zwölf-Stunden-Tag vorgeschlagen hat? Weil es damals ja nicht nur um den Zwölf-Stunden-Tag bei Gleitzeit gegangen ist. Damals wurden auch zusammenhängende Freizeitblöcke und eine selbstbestimmte Inanspruchnahme der Mehrarbeit vorgeschlagen. SN: Die Regierung hat ebenfalls die Freiwilligkeit verankert. Freiwilligkeit in der Privatwirtschaft ist, unter uns gesagt, eine Farce. Das Arbeitszeitgesetz ist ein Schutzgesetz. Es muss der Schwächere vor dem Stärkeren geschützt werden. Und der Schwächere ist der Arbeitnehmer. SN: Dafürgibtesdochden ÖGB! Das können wir gern durchspielen: Wenn der Arbeitgeber zu einem Mitarbeiter sagt: Ich brauche dich jetzt – wie oft kann der Betreffende in der Privatwirtschaft sagen: Ich mache es nicht? Falls er hinausgeschmissen wird, kann er natürlich zur Gewerkschaft gehen. Dann leiten wir ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht ein. Das dauert mindestens ein Jahr. Oder zwei Jahre. Dann ist der Arbeitsplatz nicht ein Mal weg, sondern drei Mal. SN: Haben Sie kein Verständnis für die Betriebe, die mit einer flexiblen Arbeitszeit Produktionsspitzen abdecken wollen? Dafür habe ich totales Verständnis! Aber das hat es laut Paragraf sieben, Absatz vier des Arbeitszeitgesetzes ja bereits gegeben. Das Unternehmen musste zum Betriebsrat gehen, die haben eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen und konnten vorübergehend zwölf Stunden arbeiten. Und wo es keinen Betriebsrat gab, wurde das mit den Mitarbeitern vereinbart. SN: Diese Regelung wurde von den Unternehmern oft als zu kompliziert empfunden. Mitbestimmung ist immer kompliziert. Deswegen kann die Regierung doch nicht die Betriebsdemokratie aushebeln! Ich wäre jederzeit für eine Beschleunigung der Abläufe bereit gewesen. Man hätte beispielsweise eine Clearingstelle einrichten können, in der ein Gewerkschaftsund ein Wirtschaftsvertreter innerhalb von 48 Stunden über eine zeitweise Verlängerung der Arbeitszeit hätten entscheiden können. Aber dieser Wunsch ist von der Wirtschaft nie an uns herangetragen worden. SN: Das Gesetz wird am 1. September in Kraft treten. Wie wollen Sie es noch verhindern? Wir werden zunächst die Betriebsräte informieren, welche Auswirkungen das Gesetz hat – im besten und im schlimmsten Fall. Noch sind alle Auswirkungen der neuen Regelung unklar, der Interpretationsbereich ist groß. Darüber hinaus werden wir Aktivitäten entwickeln, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. SN: Können diese Aktivitäten bis zu einem Generalstreik reichen? Wir werden zeitgerecht unsere Schritte setzen. SN: Was bewegt einen Gewerkschaftspräsidenten abseits der Tagespolitik? Beispielsweise die Digitalisierung, die nicht nur ein technisches Problem ist. Dahinter steckt auch eine soziale Frage, mit der wir uns intensiv befassen. Ich bin kein Maschinenstürmer. Aber wir müssen nicht alles, was aus dem Silicon Valley kommt, eins zu eins übernehmen. Der Sozialstaat, der in Europa einen hohen Stellenwert hat, muss in einer neuen digitalen Welt überleben und finanziert werden. Auch in der Klimapolitik muss immer die soziale Frage mitdiskutiert werden. Sonst kann aus einer Klimakrise sehr schnell eine soziale Krise werden.