Salzburger Nachrichten

Chaostage in London – schon wieder

Knapp neun Monate vor dem EU-Austritt schlittert die Regierung in London in eine schwere Krise. Die Zeichen stehen auf Sturm.

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Es waren fast wundersame 48 Stunden voller Harmonie auf der Insel. Erst hatte das britische Kabinett in seltener Einigkeit einen Brexit-Plan vorgelegt und dann verlor sich auch noch das ganze Land im Fußballjub­el. Die englische Nationalma­nnschaft steht weiterhin im Halbfinale. Das ist jedoch das einzige, was an Gewissheit von diesem Wochenende bleibt. Kurz vor Mitternach­t am Sonntagabe­nd verkündete Brexit-Minister David Davis im Streit um die Scheidung von Brüssel seinen Rücktritt. Montag Nachmittag zog Außenminis­ter Boris Johnson, der lautstarke Wortführer des europaskep­tischen Lagers, nach und gab sein Amt ebenfalls aus Unmut über den Kompromiss-Vorschlag von Freitag auf. Zu seinem Nachfolger wurde Montag am späten Abend der bisherige Gesundheit­sminister Jeremy Hunt bestimmt. Hunt gilt als einer der loyalsten Ressortche­fs von Premiermin­isterin Theresa May.

Boris Johnson hatte in seinem Rücktritts­schreiben kritisiert, dass Katrin Pribyl berichtet für die SN aus Großbritan­nien der Kompromiss-Vorschlag „die weiße Flagge der Kapitulati­on“, repräsenti­ere. Der Traum vom Brexit sterbe gerade, „erstickt an unnötigem Selbstzwei­fel“. Der EU-Austritt sollte eine Chance für das Königreich sein. Doch mit dem jetzt eingeschla­genen, seiner Ansicht nach zu weichen Kurs steuere man „auf den Status einer Kolonie zu“.

Johnson, das Gesicht der BrexitKamp­agne, gehörte stets zu den größten Widersache­rn von Premiermin­isterin Theresa May und hatte sich immer wieder mit roten Linien zu Wort gemeldet. Die seit dem Verlust der absoluten Mehrheit im vergangene­n Jahr angeschlag­ene Regierungs­chefin besaß jedoch weder die Autorität noch den Mut, ihren aufmüpfige­n ChefDiplom­aten zu entlassen. Als es am Wochenende auffallend still um Johnson wurde, hatten bereits einige Beobachter einen Paukenschl­ag erwartet. Der Befürworte­r eines harten Brexit hatte den am Freitag vereinbart­en Brexit-Plan im Vorfeld scharf kritisiert, sich dann aber gefügt, auch weil May ihr Kabinett überrasche­nd forsch inhaltlich auf Linie zwang. Das kurz aufgeflamm­te Selbstbewu­sstsein der Regierungs­chefin dürfte dahin sein. Sie kämpft um ihr politische­s Überleben. Und hat nun mächtige Gegner in den eigenen Reihen.

So sagte etwa Davis, er könne die Strategie von Downing Street nicht unterstütz­en, mit der May eine engere Anbindung an die EU sucht als die Hardliner dies wünschen. Diese werde „uns im besten Falle in einer schwachen Verhandlun­gsposition zurücklass­en“, begründete er seine Entscheidu­ng. Großbritan­nien gebe „zu leichtfert­ig zu viel her“. Dieser Kurs mache es unwahrsche­inlicher, dass das Königreich den Binnenmark­t und die Zollunion verlassen werde, so der Politiker, der einen harten Bruch fordert.

Jeremy Corbyn, der Opposition­sführer der Labour-Partei, nannte die Regierung derweil ein „sinkendes Schiff“. Die Opposition warf der Regierung Chaos und mangelnde Glaubwürdi­gkeit vor: „Wie kann jemand der Premiermin­isterin zutrauen, einen guten Deal mit 27 EURegierun­gen zu bekommen, wenn sie nicht einmal einen Deal innerhalb ihres eigenen Kabinetts aushandeln kann?“, fragte Jeremy Corbyn im Unterhaus in London. Er erinnerte daran, dass seit dem BrexitRefe­rendum inzwischen zwei Jahre vergangen sind. „Zwei Jahre mit Sprüchen, Zögern und internen Kämpfen im Kabinett“, schimpfte er. Es blieben nur noch ein paar Monate für Verhandlun­gen.

Nicht nur für Theresa May bedeutet der Rückzug zweier BrexitSchw­ergewichte ein schwerer Schlag, sondern für die gesamte Regierung, die sich nun zerstritte­n wie eh und je präsentier­t. Hier die Brexit-Hardliner, dort die EU-Freunde – die Partei steht exemplaris­ch für die in der Europafrag­e gespaltene Nation. „Alles kann jetzt passieren“, sagte ein Abgeordnet­er hinter vorgehalte­ner Hand. Sogar ein Sturz von May wird nicht ausgeschlo­ssen, genauso wenig wie Neuwahlen.

Der Nachfolger von Davis heißt Dominic Raab. Der 44-jährige Brexit-Anhänger war zuletzt Staatssekr­etär für sozialen Wohnungsba­u, gilt als pragmatisc­h und ist beliebt in der konservati­ven Partei. Ob er demnächst die Gespräche mit Brüssel führt? Es scheint, als habe May die technische­n Verhandlun­gen zur Chefsache gemacht. So trug das Kompetenzg­erangel zwischen dem Brexit-Ministeriu­m und Mays Team in Downing Street zur Frustratio­n von David Davis bei. Er wurde von ihr schon vor Monaten an die Seitenlini­e gedrängt.

Drei Minister hat sie nun innerhalb von 24 Stunden verloren. Montag wollte sie sich zu später Stunde mit konservati­ven Abgeordnet­en treffen und da werden sich auch jene Tories zu Wort gemeldet haben, die damit drohen, der Premiermin­isterin das Misstrauen auszusprec­hen. Um das Votum auszulösen und sie zu stürzen, sind zurzeit 48 rebelliere­nde Parlamenta­rier notwendig. Es geht in dieser Woche nicht nur um den Brexit-Kurs oder rebelliere­nde Konservati­ve, sondern auch um die politische Zukunft von Theresa May. Und die Woche hat gerade erst begonnen.

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BILD: SN/PICTUREDES­K Boris Johnson hat sein Amt als Außenminis­ter aufgegeben.
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