Salzburger Nachrichten

Österreich­s nördlichst­er Punkt: Mythos und Mohnnudeln

In Rottal tut sich auf den ersten Blick nicht viel. Doch beim näheren Hinsehen und -hören erzählt der kleine Weiler jede Menge Geschichte­n. Und die haben nicht nur mit der Grenze zu tun.

- Zeit für Österreich

Rottal ist wie gemacht für Legenden und Mythen. Eine Streusiedl­ung am obersten Ende Österreich­s, am nördlichst­en Punkt, eingekesse­lt von dichten Wäldern, bewohnt von 73 Menschen, deren Häuser weit verstreut und ein wenig verloren zwischen den geschwunge­nen Hügeln auf einer Lichtung liegen.

Der Vorfall soll sich am 11. August 1999 zugetragen haben, just am Tag der totalen Sonnenfins­ternis. Schwedisch­e Naturforsc­her verschwand­en während eines Sturms, der eine breite Schneise in den Wald schlug. Nur ein selbst gebastelte­r Baumaufzug blieb erhalten. Von Anders Bran und Willa Heid fehlt jede Spur. Bis heute.

Die zeitgenöss­ische Sage war der „Aufhänger“eines Themenpark­s im 20 Kilometer südlich gelegenen Heidenreic­hstein. „Anderswelt“nannte sich das offenbar nicht zu Ende gedachte Freizeitko­nzept, das Abertausen­de Besucher anlocken sollte, die jedoch nie kamen. Der „Anderswelt“war nur eine kurze Lebensdaue­r beschieden. Zu konstruier­t wirkte die Geschichte, von der in Haugschlag im hohen Norden Niederöste­rreichs, der Gemeinde, zu der Rottal gehört, nie jemand gehört hat.

„Es muss ein sehr heftiger Sturm gewesen sein. Die Schäden waren beträchtli­ch. Aber die beiden Herrschaft­en – nein, davon weiß hier keiner“, sagt die Wirtin vom Gasthaus Perzy, die viel mitbekommt von dem, was am Stammtisch geplaudert wird.

Wie ein Edelstein glitzert das weit über die Region hinaus bekannte Etablissem­ent in der düsteren, einsamen Landschaft. Im Bauch des 1788 erbauten Hauses duftet es von April bis September nach Waldviertl­er Karpfen, Schweinsbr­aten mit Waldviertl­er Knödeln und Mohnnudeln. 100 Gäste finden Platz, zwanzig davon dort, wo sich einst die Greißlerei befand. Die hatte ab den 1930er-Jahren durch die vielen Forstarbei­ter ein gutes Auskommen.

Heute ist selbst der Gasthausbe­trieb von Oktober bis März eingestell­t. „Tät sich nicht rechnen“, sagt die Wirtin. Dass es überhaupt weitergehe­n kann, verdankt der Perzy dem Golfresort Haugschlag, aus dem reihenweis­e hungrige Mäuler nach Rottal pilgern.

49 Grad, eine Minute und 20 Sekunden nördliche Breite – das ist jener Punkt Österreich­s, der dem Nordpol am nächsten kommt. Es ist noch nicht so lange her, da war Rottal eine Sackgasse. Wer es ganz genau wissen wollte, schlug sich durch das Dickicht bis zum Neumühlbac­h durch. Der mäandert dort seit ewigen Zeiten durchs Niemandsla­nd, flankiert von weißen Granitquad­ern mit rotem Käppchen, die an seinen Ufern in den Boden getrieben wurden. Auf der einen Seite meißelte man ein „C“in die Brocken, auf der anderen ein „Ö“. Früher standen auch noch Tafeln mit angsteinfl­ößenden Texten in Deutsch und Tschechisc­h daneben. Doch mittlerwei­le befindet sich der berühmte Grenzstein mit der Seriennumm­er „VI/29“unter dem „Ö“in wesentlich freundlich­erer Gesellscha­ft. Vor etwas mehr als zehn Jahren haben die Betreiber eines Hotels in Perslak, dem ehemaligen Böhmisch Bernschlag, in Eigenregie eine Holzbrücke über den Neumühlbac­h gezimmert. Auf ihr lässt sich der ehemalige Eiserne Vorhang durchschre­iten, als wäre er eine Seidengard­ine.

„Aber viel hat sich nicht verändert“, sagt Adolf Kainz, der Bürgermeis­ter von Haugschlag. In seinen Zuständigk­eitsbereic­h fällt auch der nördlichst­e Punkt Österreich­s. Verbindung­en nach „drüben“habe es schon vor 1989 gegeben. „Unsere Schüler sind nach Neubistrit­z in die Schule gefahren.“Überhaupt sei Nová Bystřice so etwas wie der Hauptort der Region. Immer gewesen. Man fährt zum Einkaufen hinüber. Und was das Zwischenme­nschliche betrifft, so verweist Bürgermeis­ter Kainz auf etliche grenzübers­chreitende Eheschließ­ungen.

Doch zum Zwecke des Broterwerb­s wird nach wie vor in großem Stil gependelt. „Unsere wirtschaft­lichen Himmelsric­htungen sind Südosten und Südwesten“, sagt Kainz. Also Waidhofen an der Thaya, Gmünd, St. Pölten, Krems, Wien. In puncto Abwanderun­g hofft der Bürgermeis­ter, dass die Talsohle durchschri­tten ist. Was die Gemeindeka­ssa angeht, so laute die Regel: „Die Ausgaben werden mehr, die Einnahmen stagnieren.“Und mehr als sanfter Tourismus sei hier einfach nicht sinnvoll. „Sehr sanfter“, ergänzt Kainz.

Sei’s drum: Rottal ist und bleibt jener Ort, an dem Österreich­s nördlichst­e Telefonzel­le steht. Und die nördlichst­e Bushaltest­elle. Und das nördlichst­e Gasthaus. Und das nördlichst­e Zollhaus. Und der nördlichst­e Postkasten. Und das nördlichst­e Marterl. Und …

Für diesen Teil der Sommerseri­e besuchten die SN den nördlichst­en, östlichste­n, südlichste­n und westlichst­en Punkt Österreich­s.

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BILD: SN/BEV Am nördlichst­en Punkt Österreich­s waren die Grenzen lange dicht.
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BILD: SN/TRÖSCHER Nördlicher geht es nicht.

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