1972 „Das letzte volle goldene Jahr“
Die Wirtschaft boomte und Finanzminister Hannes Androsch konnte Reformen umsetzen, die viel Geld gekostet, aber das Budget trotzdem nicht ins Wanken gebracht haben. Niemand ahnte, dass diese Epoche schon im Folgejahr zu Ende geht.
Wer im Österreich des Jahres 1972 dem letzten Schultag entgegenfieberte, zweifelte nicht: Das Leben draußen empfängt mich mit einem reichlich gedeckten Tisch. Es warteten Lehrstellen in übergroßer Zahl. Maturanten überlegten: Soll ich gleich bei einer Bank arbeiten und mit dem verdienten Gehalt meine Eltern verblüffen oder eine Uni besuchen? Studieren kostete nichts mehr. Die Universitätsreform 1972 ermöglichte den Studentinnen und Studenten den gebührenfreien Zugang. Die Mittel dazu stellte Finanzminister Hannes Androsch aus dem Budget locker zur Verfügung. Der Begriff Sparen musste im dritten Jahr der ersten SPÖ-Alleinregierung unter Bundeskanzler Bruno Kreisky nicht bemüht werden. Hannes Androsch, heuer 80 Jahre alt geworden und immer noch vielseitig beschäftigter Unternehmer, erinnert sich an diese goldenen Zeiten. Herr Androsch, was fällt Ihnen spontan zu 1972 ein? Androsch: Ein Jahr kräftigen Wachstums mit entsprechenden Reallohnsteigerungen. Das Wachstum bei uns war überdurchschnittlich gemessen an anderen europäischen Ländern, allerdings mit großem Inflationsdruck. Es spiegelte sich, dass höhere Löhne und Gehälter gezahlt wurden, als die Gewerkschaft kollektivvertraglich ausgehandelt hatte. Trotz Inflation hatten wir 1972 eine Reallohnsteigerung von sieben Prozent. SN: Utopisch, aus heutiger Sicht. Man kann es nicht vergleichen. 1972 war das letzte volle goldene Jahr. Die Wirtschaftsbelebung nach dem Krieg brachte eine Wohlstandsvermehrung wie in keiner Periode zuvor. Von 1950 bis 1973 betrug das Wachstum in den Industriestaaten real 4,0 Prozent. Zum Vergleich: Von 1890 bis 1913 waren es 1,4 Prozent, von 1913 bis 1950 nur noch 0,9 Prozent und von 1973 bis 1994 lag es bei 1,7 Prozent. Die Jahre ’50 bis ’73 brachten die Stärkung des Massenwohlstands und der Beschäftigung. Es gab die Notwendigkeit, Gastarbeiter einzuladen, die wir freudig begrüßt haben, weil ein beträchtlicher Arbeitskräftemangel bestand. Das war dem Bedarf nach den Kriegszerstörungen geschuldet, das war durchaus im eigenen Interesse dem Hegemon USA durch dessen möglichst weltoffener Wirtschaftsordnung, den Marshallplan, geschuldet und der europäischen Integration, die mit der Montanunion begann. Und auch dem Währungssystem von Bretton Woods (ein Ort im US-Bundesstaat New Hampshire, in dem das System 1944 abgesegnet wurde, Anm.) mit festen Wechselkursen. Und wir hatten den billigen Ölpreis. Das alles war im Jahr 1972 noch da. SN: Ahnte niemand, dass sich etwas ändern könnte? Selbst 1974 haben die Wirtschaftsforscher noch ein Wachstum für 1975 von zwei Prozent vorausgesagt, was heute durchaus respektabel wäre. Das hat sich als Kollektivirrtum herausgestellt, weil genau in dem Ausmaß eine Schrumpfung eingetreten ist. 1972 war blauer Himmel am Horizont. Mit dem ersten Ölpreisschub 1973 ging das zu Ende und führte rasch zu dem Wachstumsknick, der 1975 voll wirksam geworden ist und eine längere Phase der Stagflation, also geringes Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit und starke Inflation auslöste. In der Gesamteinordnung war das Jahr 1972 für uns auch durch massive Reformmaßnahmen gekennzeichnet. In einem Schub kamen eine riesige Steuerreform durch Umstellung der Umsatzsteuer auf die Mehrwertsteuer und eine weitreichende Einkommensteuerreform. Es gab einen ausgewogenen Finanzausgleich und nicht zuletzt mussten wir handeln, weil in dem Jahr beschlossen wurde, dass mit 1. Jänner 1973 das Vereinigte Königreich, Irland und andere EFTA-Staaten (EFTA steht für Europäische Freihandelsassoziation, Anm.) der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ein Vorläufer der EU, Anm.) beitreten und andere nicht wollten oder konnten. Wir konnten aus realpolitischen Gründen wegen der Sowjetunion der EWG nicht beitreten. Die Sowjets hätten das als Verletzung des Staatsvertrags angesehen. Wir bekamen das Interimsabkommen mit der EWG, das schon am 1. Oktober 1972 in Kraft trat. SN: Österreich hatte 1972 bereits ein Ministerium für Gesundheit und Umweltschutz. Viele glauben, erst die Grünen hätten den Umweltschutz in die Politik gebracht. War Österreich ein Vorreiter auf dem Gebiet? Das hatte Kreisky schon im Wahlkampf 1971 als Zielsetzung angekündigt. Der Hintergrund war, er wollte ein Ressort für den Scrinzi (Otto Scrinzi war Politiker der FPÖ, die 1970 nach dem Wahlsieg der SPÖ mit relativer Mehrheit Kreiskys Minderheitsregierung tolerierte, Anm.). Es hat doch niemand mit der absoluten Mehrheit gerechnet. SN: Wäre eine Koalition mit der FPÖ fix vereinbart gewesen? Eine Koalition nicht. Da war der Peter (FPÖ-Obmann Friedrich Peter, Anm.) gebunden. Er hat im Wahlkampf 1970 gesagt: „Keine schwarze Mehrheit, kein roter Kanzler.“Am Montag nach der Wahl 1971 war dann klar, dass wir das wichtige 93. Mandat haben, Die absolute Mehrheit. (Anm.: Ingrid Leodolter, SPÖ, wurde Ministerin für Gesundheit und Umweltschutz.) Das war die Rückendeckung, um die geplanten Reformen zum Umsetzen zu bringen. Ich habe alle betroffenen Beamten zusammengerufen und gesagt: „Jetzt gemma!“1972 ist schon vieles in Kraft getreten. Gratisschulbuch, Schülerfreifahrt. Dann kam der freie Zugang zu den Universitäten. Dabei hatten alle öffentlichen Haushalte zusammen ein Plus. Und beim Umweltschutz passierte auch viel. Die Seen beispielsweise hatten bald wieder Trinkwasserqualität. Wir haben das zu wenig hervorgehoben. Ich habe Kreisky zu einem Umweltbericht geraten, aber er wollte nicht. SN: Im Jahr 1972 begann auch die Debatte um die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs. Der Kampf um Paragraf 144 ist 1972 voll ausgebrochen, sehr zur Sorge vom Kreisky, der meinte, es könnte zum Bruch mit der Kirche kommen. Angestoßen wurde es von den SPÖ-Damen am Villacher Parteitag. Das Thema war sehr umstritten und der Beschluss fiel im Zuge der Strafrechtsreform 1975. Das war mit ein Grund, warum wir im Herbst dann die absolute Mehrheit verstärken konnten. Es ging um die Frauen und viele haben sich nach außen hin anders verhalten. Sie haben sich entweder dagegen geäußert oder nichts gesagt und in der Wahlurne ihren wirklichen Willen kundgetan. Das hat auch die ÖVP missverstanden. Die gesellschaftliche Entwicklung war weiter, als manche politische Vertreter gemeint haben. Es ist nie mehr thematisiert worden. SN: Wie haben Sie den Ausschluss von Karl Schranz von Olympia und den Empfang in Wien mit den empörten Menschenmassen gesehen? Ich war erschrocken über die inszenierte Hysterie. Es war beklemmend und hat an 1938 erinnert. Kreisky hat den Ablauf dem Sinowatz übertragen (Fred Sinowatz war Unterrichtsminister, Anm.) und Sinowatz bat Bacher (Gerd Bacher war ORF-Generalintendant, Anm.), ihm zu helfen. SN: Gerd Bacher nannte den ORF einmal die größte Medienorgel. Er hat fest in die Orgel gegriffen.