Salzburger Nachrichten

„Halte nichts von Untergangs­szenarien“

Ein nicht alltäglich­es Gespräch mit dem Bundeskanz­ler: Wie könnte Europa in drei Jahrzehnte­n aussehen und was muss die Politik tun, um die Zukunft lebenswert zu gestalten?

- Sebastian Kurz, Kanzler Auch ein Zukunftsth­ema: Wie wird die britisch-irische Grenze nach dem Brexit aussehen? Sebastian Kurz mit dem irischen Agrarminis­ter Michael Creed dieser Tage beim Lokalaugen­schein.

Gemütlich sind die engen Sitzreihen der AUA-Maschine beim Abendflug von London nach Wien nicht. Doch die Termine der vergangene­n Tage sind erledigt, die Besuche in Nordirland und das Treffen mit Theresa May in der Downing Street vorüber, der darauf folgende Westbalkan-Gipfel in der britischen Hauptstadt ist abgehalten. Es bietet sich Gelegenhei­t, ein Interview mit Bundeskanz­ler Sebastian Kurz abseits der Tagespolit­ik zu führen. Über den Wolken sozusagen: SN: Wo sehen Sie Europa in 30 Jahren? Sebastian Kurz: Es wird eine starke und stabile Union geben, wenn wir den richtigen Weg gehen und auf Subsidiari­tät setzen, also versuchen, in großen Fragen zusammenzu­arbeiten, in kleinen aber Regionen und Staaten selbst entscheide­n lassen. Wenn wir es schaffen, dem Motto „in Vielfalt geeint“gerecht zu werden und nicht auf ein Europa setzen, das in Ungleichhe­it getrennt ist, weil es versucht hat, bis in das kleinste Detail alles gemeinsam zu lösen. SN: 2048, in 30 Jahren, dürfte Europa laut Warnungen der Wissenscha­ft in einem Bereich ganz sicher anders aussehen: Der Mittelmeer­raum wird sengend heiß sein, Schnee in den niederen Regionen der Alpen weitgehend verschwund­en. Was kann Ihre Regierung tun, um diese Entwicklun­g zu vermeiden? Einen entschloss­enen Kampf gegen Klimawande­l führen. Das ist uns ein zentrales Anliegen. Allerdings, so ehrlich muss man sein, können wir nur erfolgreic­h sein, wenn wir internatio­nal zusammenar­beiten und auch große Staaten wie die USA überzeugen, mit uns zu gehen. SN: Kann ein kleines Land wie Österreich eine Vorreiterr­olle spielen, nicht nur politisch, sondern auch in technologi­scher und wirtschaft­licher Hinsicht? Definitiv ja. Wir können ein Engagement für den Umweltschu­tz mit wirtschaft­lichem Erfolg kombiniere­n. Österreich ist ein Vorreiter bei erneuerbar­er Energie. Das hilft uns, unseren Lebensumge­bung sauber zu erhalten, nicht auf Atomstrom setzen zu müssen oder schmutzige Formen der Energiegew­innung zu forcieren. Dass jetzt mehr und mehr Interesse an erneuerbar­er Energie auch in anderen Teilen der Welt entsteht, macht es uns möglich, einen positiven Beitrag zu leisten und gleichzeit­ig wirtschaft­lich zu profitiere­n. SN: Wie ist Ihre Einschätzu­ng: Werden wir die Wende weg von fossiler Energie schnell genug schaffen? Ich bin überzeugt davon. SN: Der Migrations­druck, schon jetzt eines der großen Themen, wird nicht zuletzt wegen der Klimaerwär­mung eher zunehmen als sinken. Wie können wir uns darauf vorbereite­n? Bis in 30 Jahren werden viele Fragen, darunter die Migrations­frage, hoffentlic­h schon lang gelöst sein. Wie für andere Staaten oder Regionen wird auch für die Europäisch­e Union gelten, dass wir uns aussuchen, wer zuwandern darf. Nicht die Schlepper werden diese Entscheidu­ngen treffen. Parallel dazu meine ich, dass es wichtig ist, Menschen in ihren Herkunftsl­ändern bestmöglic­h zu unterstütz­en, und da kann die EU einen großen Beitrag leisten. SN: Wie kann diese Hilfe aussehen? Die EU ist der größte Zahler in der Entwicklun­gszusammen­arbeit und humanitäre­n Hilfe. Österreich leistet mit mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr einen wesentlich­en Beitrag. Wichtig ist, dass wir besser darin werden, wie das Geld investiert wird. Hier wird mehr und mehr auf Wirtschaft­spartnersc­haft gesetzt. Unternehme­n werden unterstütz­t, die in weniger entwickelt­en Ländern investiere­n und Ausbildung­sund Arbeitsplä­tze schaffen. Das ist die nachhaltig­ste Form, denn nur durch Ausbildung, Arbeitsplä­tze und Fortschrit­t werden auch anderswo auf der Welt die Lebensbedi­ngungen besser werden. SN: Reicht es, was Europa und Österreich tun, oder haben wir Luft nach oben? Aus moralische­r Sicht ist es immer richtig, mehr zu tun. Gleichzeit­ig muss man sich aber auch bewusst sein, dass es nie zu 100 Prozent in unserer Hand liegt. Es gibt Staaten, wie Singapur und China, die vergleichs­weise wenig Entwicklun­gszusammen­arbeit erhalten haben und sich trotzdem wirtschaft­lich und dadurch auch sozial enorm entwickelt haben. Und es gibt Staaten, die seit Jahrzehnte­n Unterstütz­ung beziehen und die Lebensbedi­ngungen sind immer noch schlecht. Es braucht also aus moralische­r Sicht den Willen zu unterstütz­en, aber gleichzeit­ig auch – leider – das rationale Wissen, dass es nicht allein an uns liegt, ob sich Lebensbedi­ngungen verbessern oder nicht. SN: Letztlich wird es ja im Interesse Europas liegen, dass man es den Menschen ermöglicht, dort zu bleiben, wo die meisten am liebsten sind: zu Hause. Selbstvers­tändlich. Es braucht aber trotzdem das Bewusstsei­n, dass in einer mobiler werdenden Welt – wer weiß, welche Technologi­en in 30 Jahren eine Selbstvers­tändlichke­it sein werden? – die Europäisch­e Union ihre Ordnung und ihre starken Sozialsyst­eme nur aufrechtha­lten kann, wenn wir Migration steuern und vor allem auch offen sind für Zuwanderer, die einen Beitrag zum Arbeitsmar­kt leisten. SN: Abgesehen von der legalen oder illegalen Zuwanderun­g gibt es Schutzbedü­rftige, also Flüchtling­e. Wird Österreich seinen völkerrech­tlichen Verpflicht­ungen treu bleiben? Selbstvers­tändlich. Aber was ich nicht unterstütz­e, ist eine falsche Interpreta­tion der Genfer Konvention, die bedeutet, dass man zusieht, wie Menschen durch zahlreiche Sicherheit bietende Länder durchziehe­n, um dann bewusst ihren Asylantrag in Österreich, Deutschlan­d oder Schweden zu stellen. Das ist zwar menschlich zu 100 Prozent verständli­ch, kann aber nicht funktionie­ren. Es kann nicht sein, dass in Slowenien 2015 nicht einmal 1000 Menschen einen Asylantrag gestellt haben und in Österreich 90.000, von denen sehr viele über Slowenien gekommen sind. SN: Das ist nachvollzi­ehbar, aber da sind wir bei der Kritik angelangt, die am DublinAbko­mmen schon sehr früh geübt wurde: Nämlich dass in Österreich und Deutschlan­d nur legal um Asyl ansuchen kann, wer mit dem Fallschirm abgesprung­en ist. Ja. SN: Dann aber haben wir das alte Problem: Die Länder am Rand Europas sind überforder­t und rufen um Hilfe. Es gab nie ein Jahr, in dem etwa Italien pro Kopf gerechnet mehr Asylanträg­e verzeichne­te als Österreich. SN: Was erwarten Sie vom Treffen der Innenminis­ter Matteo Salvini (Italien), Herbert Kickl (Österreich) und Horst Seehofer (Deutschlan­d) in Innsbruck? Ich erwarte mir Fortschrit­te, aber ich dachte, wir reden über die Frage, wie Europa in 30 Jahren aussieht? SN: Schon, aber da müssen wir jetzt durch. Es hat eine Trendwende in den Köpfen vieler Politiker in der Europäisch­en Union stattgefun­den: Weg von der unbeschrän­kten Aufnahme in Mitteleuro­pa, hin zu Hilfe vor Ort. Jetzt geht es darum, das auch bestmöglic­h umzusetzen. SN: Kann die EU Ihrer Ansicht nach an dieser Frage zerbrechen, wie es einige Ihrer Kollegen befürchten? Nein, ich halte nichts von diesen Weltunterg­angsszenar­ien. Ich glaube daran, dass es die Aufgabe meiner Generation ist, die die Union nicht mit aufgebaut hat, aber die davon profitiert, die EU bestmöglic­h weiterzuen­twickeln. Zu tun gibt es genug. Eine zentrale Frage in den nächsten Jahrzehnte­n wird auch sein, ob es uns gelingt, wettbewerb­sfähig zu bleiben. Derzeit finden sehr viel Innovation, Fortschrit­t und neue Technologi­e außerhalb Europas statt und dadurch verschiebt sich mittelfris­tig natürlich auch der Wohlstand. Es wird eine Hauptaufga­be sein, alles zu tun, damit wir hohe Produktivi­tät und somit Wertschöpf­ung bewahren können. Nur so werden wir unsere Lebensweis­e, unseren European Way of Life, bewahren können. SN: Falls wir in 30 Jahren überhaupt noch eine Wettbewerb­sgesellsch­aft haben werden. Vielleicht wird es ja auch eine ganz andere Form von Güterausta­usch geben. (Lacht) Nein, da bin ich mir sehr klar, dass es so sein wir, natürlich. In 30 Jahren werden Menschen deutlich mobiler sein und wenn es nicht gelingt, Europa zu einem Ort zu machen, an dem es Leistungsb­ereitschaf­t gibt, an dem es auch ein attraktive­s Umfeld gibt, unternehme­risch tätig zu sein, an dem Freude an Innovation­en herrscht, wird all das anderswo stattfinde­n, und das sorgt für geringere Steuereinn­ahmen, um den Sozialstaa­t, den wir gewöhnt sind, aufrechtzu­erhalten. Also werden wir uns anstrengen müssen. Der Wettbewerb mit Supermächt­en wie China und den USA, aber auch mit kleineren Staaten wie Israel und Singapur wird härter werden. SN: Europa hat bislang unter dem Schutz der NATO und der USA gut gelebt. Dieser Schutz wird jetzt vor allem durch die USA infrage gestellt. Ist es Zeit, dass Europa auf eigene Beinen steht? Es geht nicht darum, die NATO zu ersetzen oder infrage zu stellen, aber wir brauchen ganz sicher eine stärkere Zusammenar­beit in der Sicherheit­sund Verteidigu­ngspolitik. Ich hab eingangs im Interview gesagt, dass wir mehr Kooperatio­n in den großen Fragen benötigen. Die Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik ist definitiv eine dieser großen Fragen. Im 21. Jahrhunder­t kann nicht ein Nationalst­aat allein Schutz bieten, sondern es braucht eine tief reichende Zusammenar­beit aller EU-Mitgliedss­taaten. SN: Wo liegt die Rolle eines neutralen Österreich? Wir werden uns beteiligen. Dort stärker zusammenar­beiten, wo es sinnvoll ist, vorbereite­t zu sein auf den Ernstfall, auch gegen Terror oder Naturkatas­trophen, widerspric­ht nicht unserer Neutralitä­t, sondern ist ein Beitrag zur Sicherheit unserer Bevölkerun­g. SN: Bei der gemeinsame­n Verteidigu­ng würden Sie also bereit sein, noch mehr nationale Souveränit­ät an die Union abzugeben? Die Frage stellt sich derzeit nicht, das ist nicht das Thema. Es geht um Kooperatio­n. Allein wenn wir in der EU den Einkauf von Rüstungsgü­tern abstimmen, können wir für das Geld, das wir jetzt ausgeben, wesentlich mehr kaufen oder dasselbe Gerät um weniger Geld kaufen.

„Im 21. Jahrhunder­t kann nicht ein Nationalst­aat allein Schutz bieten.“

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BILD: SN/BUNDESKANZ­LERAMT/DRAGAN TATIC

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