„Halte nichts von Untergangsszenarien“
Ein nicht alltägliches Gespräch mit dem Bundeskanzler: Wie könnte Europa in drei Jahrzehnten aussehen und was muss die Politik tun, um die Zukunft lebenswert zu gestalten?
Gemütlich sind die engen Sitzreihen der AUA-Maschine beim Abendflug von London nach Wien nicht. Doch die Termine der vergangenen Tage sind erledigt, die Besuche in Nordirland und das Treffen mit Theresa May in der Downing Street vorüber, der darauf folgende Westbalkan-Gipfel in der britischen Hauptstadt ist abgehalten. Es bietet sich Gelegenheit, ein Interview mit Bundeskanzler Sebastian Kurz abseits der Tagespolitik zu führen. Über den Wolken sozusagen: SN: Wo sehen Sie Europa in 30 Jahren? Sebastian Kurz: Es wird eine starke und stabile Union geben, wenn wir den richtigen Weg gehen und auf Subsidiarität setzen, also versuchen, in großen Fragen zusammenzuarbeiten, in kleinen aber Regionen und Staaten selbst entscheiden lassen. Wenn wir es schaffen, dem Motto „in Vielfalt geeint“gerecht zu werden und nicht auf ein Europa setzen, das in Ungleichheit getrennt ist, weil es versucht hat, bis in das kleinste Detail alles gemeinsam zu lösen. SN: 2048, in 30 Jahren, dürfte Europa laut Warnungen der Wissenschaft in einem Bereich ganz sicher anders aussehen: Der Mittelmeerraum wird sengend heiß sein, Schnee in den niederen Regionen der Alpen weitgehend verschwunden. Was kann Ihre Regierung tun, um diese Entwicklung zu vermeiden? Einen entschlossenen Kampf gegen Klimawandel führen. Das ist uns ein zentrales Anliegen. Allerdings, so ehrlich muss man sein, können wir nur erfolgreich sein, wenn wir international zusammenarbeiten und auch große Staaten wie die USA überzeugen, mit uns zu gehen. SN: Kann ein kleines Land wie Österreich eine Vorreiterrolle spielen, nicht nur politisch, sondern auch in technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht? Definitiv ja. Wir können ein Engagement für den Umweltschutz mit wirtschaftlichem Erfolg kombinieren. Österreich ist ein Vorreiter bei erneuerbarer Energie. Das hilft uns, unseren Lebensumgebung sauber zu erhalten, nicht auf Atomstrom setzen zu müssen oder schmutzige Formen der Energiegewinnung zu forcieren. Dass jetzt mehr und mehr Interesse an erneuerbarer Energie auch in anderen Teilen der Welt entsteht, macht es uns möglich, einen positiven Beitrag zu leisten und gleichzeitig wirtschaftlich zu profitieren. SN: Wie ist Ihre Einschätzung: Werden wir die Wende weg von fossiler Energie schnell genug schaffen? Ich bin überzeugt davon. SN: Der Migrationsdruck, schon jetzt eines der großen Themen, wird nicht zuletzt wegen der Klimaerwärmung eher zunehmen als sinken. Wie können wir uns darauf vorbereiten? Bis in 30 Jahren werden viele Fragen, darunter die Migrationsfrage, hoffentlich schon lang gelöst sein. Wie für andere Staaten oder Regionen wird auch für die Europäische Union gelten, dass wir uns aussuchen, wer zuwandern darf. Nicht die Schlepper werden diese Entscheidungen treffen. Parallel dazu meine ich, dass es wichtig ist, Menschen in ihren Herkunftsländern bestmöglich zu unterstützen, und da kann die EU einen großen Beitrag leisten. SN: Wie kann diese Hilfe aussehen? Die EU ist der größte Zahler in der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe. Österreich leistet mit mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr einen wesentlichen Beitrag. Wichtig ist, dass wir besser darin werden, wie das Geld investiert wird. Hier wird mehr und mehr auf Wirtschaftspartnerschaft gesetzt. Unternehmen werden unterstützt, die in weniger entwickelten Ländern investieren und Ausbildungsund Arbeitsplätze schaffen. Das ist die nachhaltigste Form, denn nur durch Ausbildung, Arbeitsplätze und Fortschritt werden auch anderswo auf der Welt die Lebensbedingungen besser werden. SN: Reicht es, was Europa und Österreich tun, oder haben wir Luft nach oben? Aus moralischer Sicht ist es immer richtig, mehr zu tun. Gleichzeitig muss man sich aber auch bewusst sein, dass es nie zu 100 Prozent in unserer Hand liegt. Es gibt Staaten, wie Singapur und China, die vergleichsweise wenig Entwicklungszusammenarbeit erhalten haben und sich trotzdem wirtschaftlich und dadurch auch sozial enorm entwickelt haben. Und es gibt Staaten, die seit Jahrzehnten Unterstützung beziehen und die Lebensbedingungen sind immer noch schlecht. Es braucht also aus moralischer Sicht den Willen zu unterstützen, aber gleichzeitig auch – leider – das rationale Wissen, dass es nicht allein an uns liegt, ob sich Lebensbedingungen verbessern oder nicht. SN: Letztlich wird es ja im Interesse Europas liegen, dass man es den Menschen ermöglicht, dort zu bleiben, wo die meisten am liebsten sind: zu Hause. Selbstverständlich. Es braucht aber trotzdem das Bewusstsein, dass in einer mobiler werdenden Welt – wer weiß, welche Technologien in 30 Jahren eine Selbstverständlichkeit sein werden? – die Europäische Union ihre Ordnung und ihre starken Sozialsysteme nur aufrechthalten kann, wenn wir Migration steuern und vor allem auch offen sind für Zuwanderer, die einen Beitrag zum Arbeitsmarkt leisten. SN: Abgesehen von der legalen oder illegalen Zuwanderung gibt es Schutzbedürftige, also Flüchtlinge. Wird Österreich seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen treu bleiben? Selbstverständlich. Aber was ich nicht unterstütze, ist eine falsche Interpretation der Genfer Konvention, die bedeutet, dass man zusieht, wie Menschen durch zahlreiche Sicherheit bietende Länder durchziehen, um dann bewusst ihren Asylantrag in Österreich, Deutschland oder Schweden zu stellen. Das ist zwar menschlich zu 100 Prozent verständlich, kann aber nicht funktionieren. Es kann nicht sein, dass in Slowenien 2015 nicht einmal 1000 Menschen einen Asylantrag gestellt haben und in Österreich 90.000, von denen sehr viele über Slowenien gekommen sind. SN: Das ist nachvollziehbar, aber da sind wir bei der Kritik angelangt, die am DublinAbkommen schon sehr früh geübt wurde: Nämlich dass in Österreich und Deutschland nur legal um Asyl ansuchen kann, wer mit dem Fallschirm abgesprungen ist. Ja. SN: Dann aber haben wir das alte Problem: Die Länder am Rand Europas sind überfordert und rufen um Hilfe. Es gab nie ein Jahr, in dem etwa Italien pro Kopf gerechnet mehr Asylanträge verzeichnete als Österreich. SN: Was erwarten Sie vom Treffen der Innenminister Matteo Salvini (Italien), Herbert Kickl (Österreich) und Horst Seehofer (Deutschland) in Innsbruck? Ich erwarte mir Fortschritte, aber ich dachte, wir reden über die Frage, wie Europa in 30 Jahren aussieht? SN: Schon, aber da müssen wir jetzt durch. Es hat eine Trendwende in den Köpfen vieler Politiker in der Europäischen Union stattgefunden: Weg von der unbeschränkten Aufnahme in Mitteleuropa, hin zu Hilfe vor Ort. Jetzt geht es darum, das auch bestmöglich umzusetzen. SN: Kann die EU Ihrer Ansicht nach an dieser Frage zerbrechen, wie es einige Ihrer Kollegen befürchten? Nein, ich halte nichts von diesen Weltuntergangsszenarien. Ich glaube daran, dass es die Aufgabe meiner Generation ist, die die Union nicht mit aufgebaut hat, aber die davon profitiert, die EU bestmöglich weiterzuentwickeln. Zu tun gibt es genug. Eine zentrale Frage in den nächsten Jahrzehnten wird auch sein, ob es uns gelingt, wettbewerbsfähig zu bleiben. Derzeit finden sehr viel Innovation, Fortschritt und neue Technologie außerhalb Europas statt und dadurch verschiebt sich mittelfristig natürlich auch der Wohlstand. Es wird eine Hauptaufgabe sein, alles zu tun, damit wir hohe Produktivität und somit Wertschöpfung bewahren können. Nur so werden wir unsere Lebensweise, unseren European Way of Life, bewahren können. SN: Falls wir in 30 Jahren überhaupt noch eine Wettbewerbsgesellschaft haben werden. Vielleicht wird es ja auch eine ganz andere Form von Güteraustausch geben. (Lacht) Nein, da bin ich mir sehr klar, dass es so sein wir, natürlich. In 30 Jahren werden Menschen deutlich mobiler sein und wenn es nicht gelingt, Europa zu einem Ort zu machen, an dem es Leistungsbereitschaft gibt, an dem es auch ein attraktives Umfeld gibt, unternehmerisch tätig zu sein, an dem Freude an Innovationen herrscht, wird all das anderswo stattfinden, und das sorgt für geringere Steuereinnahmen, um den Sozialstaat, den wir gewöhnt sind, aufrechtzuerhalten. Also werden wir uns anstrengen müssen. Der Wettbewerb mit Supermächten wie China und den USA, aber auch mit kleineren Staaten wie Israel und Singapur wird härter werden. SN: Europa hat bislang unter dem Schutz der NATO und der USA gut gelebt. Dieser Schutz wird jetzt vor allem durch die USA infrage gestellt. Ist es Zeit, dass Europa auf eigene Beinen steht? Es geht nicht darum, die NATO zu ersetzen oder infrage zu stellen, aber wir brauchen ganz sicher eine stärkere Zusammenarbeit in der Sicherheitsund Verteidigungspolitik. Ich hab eingangs im Interview gesagt, dass wir mehr Kooperation in den großen Fragen benötigen. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist definitiv eine dieser großen Fragen. Im 21. Jahrhundert kann nicht ein Nationalstaat allein Schutz bieten, sondern es braucht eine tief reichende Zusammenarbeit aller EU-Mitgliedsstaaten. SN: Wo liegt die Rolle eines neutralen Österreich? Wir werden uns beteiligen. Dort stärker zusammenarbeiten, wo es sinnvoll ist, vorbereitet zu sein auf den Ernstfall, auch gegen Terror oder Naturkatastrophen, widerspricht nicht unserer Neutralität, sondern ist ein Beitrag zur Sicherheit unserer Bevölkerung. SN: Bei der gemeinsamen Verteidigung würden Sie also bereit sein, noch mehr nationale Souveränität an die Union abzugeben? Die Frage stellt sich derzeit nicht, das ist nicht das Thema. Es geht um Kooperation. Allein wenn wir in der EU den Einkauf von Rüstungsgütern abstimmen, können wir für das Geld, das wir jetzt ausgeben, wesentlich mehr kaufen oder dasselbe Gerät um weniger Geld kaufen.
„Im 21. Jahrhundert kann nicht ein Nationalstaat allein Schutz bieten.“