Die Krise der Roten
Was ist mit der Sozialdemokratie los? Versuche einer Antwort.
„Die AfD zieht einer neuen Umfrage zufolge an der SPD vorbei“, meldeten bundesdeutsche Blätter vor wenigen Tagen. Tatsächlich hatte die rechtsradikale Alternative für Deutschland in einer Umfrage des insa-Instituts mit 17,5 Prozent die Sozialdemokraten überholt, die auf einen historischen Tiefstwert von 17 Prozent abgestürzt waren.
Deutschland liegt im Trend. Die Zeit, als die europäische Sozialdemokratie unter der Führung von Persönlichkeiten wie Gerhard Schröder oder Tony Blair einen „dritten Weg“eingeschlagen hatte und die meisten EU-Regierungen von Sozialdemokraten geführt wurden, sind lang vorbei. Heute gibt es nur noch in einer Handvoll EUStaaten rote Regierungschefs, in Portugal etwa oder in Malta. Oder in Rumänien, dessen Regierung aufgrund akuter Korruptionsanfälligkeit allerdings nicht eben zu den sozialdemokratischen Vorzeigeprojekten gehört. Oder in Spanien, wo sich soeben ein roter Regierungschef mithilfe einer wackeligen Koalition in den Chefsessel gehievt hat. Italien hingegen ist seit der letzten Wahl seinen Mitte-links-Regierungschef los, nun sind auch hier die Rechtsparteien am Ruder. In Polen und Ungarn sowieso. In Deutschland gibt seit bald 13 Jahren eine konservative Kanzlerin den Ton an. Und Österreich verpasste sich nach der letzten Nationalratswahl eine Regierung, die deutlich rechts der Mitte steht.
Kein Zweifel: Europa ist in den vergangenen Jahren nach rechts gerückt. Die Finanzkrise und vor al- lem die Flüchtlingskrise haben die Menschen zu jenen Parteien getrieben, die um markige Worte nicht verlegen sind. Sebastian Kurz war einer der ersten Politiker einer gemäßigten Partei, die dies erkannt haben. Folgerichtig führte er die ÖVP auf einen rechten Kurs. Die Wähler folgten ihm willig. Und die SPÖ, die sich allzu lang gegen eine striktere Migrationspolitik gewehrt hatte, fand sich in der Opposition wieder. Wo sie seither zwischen Hans Peter Doskozil (Asylanträge nur mehr außerhalb Europas) und der Sozialistischen Jugend („kämpfen für eine Welt ohne Grenzen“) mäandert.
Ist die migrationsfreundliche Politik, die die SPÖ, und mir ihr etliche andere sozialdemokratische Parteien Europas, lang gepflogen hat, tatsächlich der einzige Grund für deren Krise? Max Lercher, der neue Bundesgeschäftsführer der SPÖ, sagt: Nein. Der Kardinalfehler sei viel früher begangen worden, damals, als Blair und Schröder (Letzterer als „Genosse der Bosse“) den sozialdemokratischen Kurs in Europa prägten. „Die Sozialdemokratie hat damals nicht mehr die Interessen der Menschen vertreten“, sagt der hemdsärmelige junge SPÖ-Manager, der schon rein äußerlich einen Kontrast zur Slim-fit-Politikergeneration bildet, kürzlich den SN. Die damaligen, äußerst marktwirtschaftlich orientierten sozialdemokratischen Führungsgestalten hätten die Wirtschaft dereguliert, „der Finanzmarkt konnte und kann tun, was er will, während beim Häuslbauer und bei den Bauern die volle Besteuerung zuschlägt“, sagt Lercher. Er will sich wieder auf die „Seele der Sozialdemokratie“zurückbesinnen. Diese werde geprägt von Solidarität und Glaubwürdigkeit.
Einen anderen Aspekt, der zur Gesundung der Sozialdemokratie führen könne, nennt der ehemalige Bundeskanzler Franz Vranitzky in nebenstehendem Interview: Da die europäischen Gesellschaften „nicht mehrheitlich sozialdemokratisch“seien, müsse sich die Sozialdemokratie „sorgfältig zur gesellschaftlichen Mitte“bewegen. Damit sie auch für Besserverdienende und Führungskräfte wählbar sei. Das klingt ein wenig anders als Lerchers Konzept. Oder auch nicht, denn Solidarität und wirtschaftlicher Sachverstand schließen einander nicht aus.
In der Analyse der jungen SPÖFunktionärin Lea Lix schimmert ein neuer Pragmatismus durch. Auch als Sozialdemokratin könne man „für Sicherheitspolitik sein“und „kontrollieren, wer in das Land kommt“, sagt sie. Das klingt doch ein wenig anders als seinerzeit SPÖKanzler Werner Faymann, der sogar den Schutz der EU-Außengrenzen durch Ungarns Premier Orbán als einen Akt der Unmenschlichkeit gegeißelt hatte.
Die SPÖ ist dabei, sich mit einem neuen Programm und einem neuen Statut zu modernisieren. Sie ist derzeit die einzige ernst zu nehmende Parlamentsopposition links der Mitte. Sie verfügt über erhebliche Ressourcen und exzellente Thinktanks. Kurzum: Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie wieder Wind in ihre Segel bekommt.