Salzburger Nachrichten

Von Engeln und Teufeln

In den Wäldern Lettlands ist die Welt der Märchen noch lebendig. Und die Sagen rund um die vielen Burgen und Bollwerke sind so fasziniere­nd wie schrecklic­h.

- HELMUT KRETZL

In langen Sommernäch­ten bekommt die quirlige lettische Hauptstadt Riga ein südländisc­hes Flair. Dass sie mitunter auch illuminier­t ausfallen können, liegt an einer lokalen Kräuterlik­örspeziali­tät mit dem trügerisch­en Namen „Balsam“. Damit soll einst ein Apotheker die russische Zarin Katharina II. kuriert haben. An welchem Leiden sie litt, ist ebenso geheim wie das Rezept, das nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam rekonstrui­ert werden musste. Egal welche Geschmacks­richtung man wählt, das Ergebnis schmeckt immer dunkel, bitter und zu süß.

Mit knapp einer Million Einwohner ist Riga die größte Stadt aller drei baltischen Länder, in deren Mitte Lettland liegt. Die mit Jugendstil­bauten gespickte Hansestadt bezaubert durch mittelalte­rliche Plätze und Gässchen. Besonders in Erinnerung geblieben ist eine Skulptur der Bremer Stadtmusik­anten. Warum Bremen? Das sei einerseits ein Symbol für die Verbundenh­eit der alten Hansestädt­e, weiß die Reiseleite­rin. Zudem geht es weniger um das Märchen als vielmehr den Aufbruch in eine neue Zeit: Die vier Tiere schauen durch einen Spalt in der Mauer in eine offene Zukunft – ein Sinnbild für die Perestroik­a, im Entstehung­sjahr 1990 das große Thema.

In diese Zeit fällt auch die Auflösung der Sowjetunio­n, die baltischen Länder rangen zum zweiten Mal seit 1918 um ihre Selbststän­digkeit.

Wer Geschichte und Seele des Landes kennenlern­en will, muss in das waldreiche Hinterland im Nordosten reisen, speziell in den Gauja-Nationalpa­rk, das mit 920 Quadratkil­ometern größte Naturschut­zgebiet Lettlands. Es ist eine Reise in die Vergangenh­eit, in die Zeit noch weit vor der Errichtung der großen lettischen Burgen.

Die Geschichte des einzigarti­gen „Siebfelsen­s“– Sietiņiezi­s auf Lettisch – reicht 370 Millionen Jahre zurück, noch vor das Auftreten der Dinosaurie­r. Der Name leitet sich von unzähligen winzigen Löchern her, die durch das Ein- und Ausfliegen von Bienen entstanden. Die milliarden­fachen Flügelbewe­gungen haben ein bleibendes Naturdenkm­al erschaffen.

Elina, unsere kundige Begleiteri­n, hat noch weitere Geschichte­n auf Lager. Laut Legende soll der Teufel in einer Felshöhle unweit des Flusses Gauja gehaust haben. Als ihm ein frommer Pfarrer zu nahe auf den Pelz rückte, nahm der Teufel Reißaus, stieß sich von einem großen Steinvorsp­rung ab und warf diverse Felsen in den Fluss, um ihn trockenen Fußes überqueren zu können. Der Fußabdruck ist ebenso noch zu sehen wie die wild verstreute­n Steine.

Wie eine silberne Kette schlängelt sich der Fluss durch die Landschaft, und wie Anhänger finden sich daran die wichtigste­n Burgen des Landes, Turaida, Sigulda oder Cēsis. Die alten Namen Treiden, Segewold und Wenden verraten den langen Einfluss des deutschen Schwertbrü­derordens.

Die Geschichte Lettlands ist geprägt von Auseinande­rsetzungen der deutschen Oberschich­t mit Schweden, Russland und Polen, zusammen mit der lettischen Volkstradi­tion ergibt das einen kulturelle­n Schmelztie­gel.

Auf der Burg Cēsis findet gerade ein Fest statt. Unter einer alten Eiche spielt eine Musikgrupp­e in historisch­en Kostümen, auf dem Burghof verkaufen Frauen Speisen nach Originalre­zepten. Die Männer schärfen ihre Schwerter für den nächsten Schaukampf. Wie ernst sie ihre Rolle nehmen, zeigen ihre Fachgesprä­che über Waffensyst­eme des Mittelalte­rs. Da waren Armbrüste eine gefährlich­ere Waffe als Schwerter, ist bei dieser Gelegenhei­t zu erfahren.

Im Jahr 1209 begannen deutsche Kreuzritte­r hier eine Burg zu bauen. Cēsis war der Sitz des Livländisc­hen Ordens, hier residierte der Ordensmeis­ter. Doch die lange Blütezeit der Burg endete jäh, als Ivan der Schrecklic­he 1577 das Bollwerk belagerte. Verzweifel­t sprengten sich die Ordensbrüd­er selbst in die Luft – samt Festung.

Hier hat auch die Landesflag­ge ihren Ursprung. Der Legende nach legte man einen schwer verwundete­n Soldaten auf eine Bahre. Danach war der Stoff blutrot getränkt, ein weißer Streifen in der Mitte zeigte an, wo der Verwundete gelegen war. Die Flagge besteht also, wie die österreich­ische, aus rot-weiß-roten Streifen. Doch der lettische Soldat war offenbar schlanker als der Babenberge­r-Herzog Leopold V. von Österreich, denn der Mittelstre­ifen ist schmaler. Und er gab scheinbar sein Herzblut, denn das Rot ist deutlich dunkler.

Eine moderne Version der Burgen finden wir in der Ortschaft Līgatne. Eine Ferienanla­ge im Beton-Glas-Stil der 1970er-Jahre bietet die perfekte Tarnung für den größten Geheimbunk­er des Landes. Neun Meter unter der Erde wurde eine 2000 Quadratmet­er große Kommandoze­ntrale für die SowjetNome­nklatura angelegt, meterdicke Betonwände sollten auch einem Atomangrif­f standhalte­n. Drei Monate lang sollten hier bis zu 250 Personen überleben können. An alles war gedacht, es gibt ein Kartenzimm­er, Standleitu­ngen nach Moskau und einen Freizeitra­um samt Originalsc­hallplatte­n.

Doch dieses Relikt des Kalten Kriegs ist eine Ausnahme. Auf der Reise überwiegen Bilder einer Zeit der Burgen, Schlösser, Pferdekuts­chen und Windmühlen. Hier pflegen Müller und Fassbinder noch ihr Handwerk. Und auf Waldbühnen singen Chöre mit Hunderten Menschen ergreifend­e Lieder über Sonne, Donner und den lettischen Schicksals­fluss Daugava.

Im heurigen Jubiläumsj­ahr ist die inoffiziel­le Landeshymn­e „Saule, Pērkons, Daugava“oft zu hören – „und am Schluss weinen immer alle“, erzählt Reiseleite­rin Elina. Viele Chorsänger­innen sind so blond wie sie. In ihren Trachten und ihrer Andacht ähneln sie Engeln. Und bilden damit einen Gegenpol zu den vielen Teufeln, die im Wald überall Spuren hinterlass­en haben.

 ?? BILD: SN/FOTOLIA-RONSTIK ?? Die Burg Turaida – der Name bedeutet übersetzt „Gottesgart­en“.
BILD: SN/FOTOLIA-RONSTIK Die Burg Turaida – der Name bedeutet übersetzt „Gottesgart­en“.
 ?? BILDER: SN/FOTOLIA-INGUSK, KRETZL (2) ??
BILDER: SN/FOTOLIA-INGUSK, KRETZL (2)
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria