Leiden in den ukrainischen Chaos-Tagen
Wenn heute von kaputten Staaten die Rede ist, denken wir an Syrien, Afghanistan, Libyen oder Somalia. Denken wir noch an die Ukraine?
Vor vier Jahren hat die Zentralregierung nach der russischen Okkupation der Krim auch die Kontrolle über die Ostukraine, den Donbass, verloren. Aus den schnellen Medien sind Berichte darüber, wie es der Zivilbevölkerung dort ergeht, fast verschwunden. Zum Glück gibt es langsamere Medien mit einem längeren Gedächtnis – etwa die Literatur. Und zum Glück gibt es Serhij Zhadan, den ukrainischen Superstar, 1974 im Donbass geboren: Erzähler, Lyriker, Essayist, Übersetzer, Polit-Aktivist der demokratischen Euromaidan-Revolution von 2014 und Rockmusiker, der mit seiner Band „Hunde im Kosmos“volle Hallen im ganzen Land garantiert.
Hauptthema von Zhadans bisher fünf Romanen ist die kaputte Ukraine – ein absurdes Land, schwer angeschlagen, tief korrupt und politisch taumelnd. Er erzählt von einer Gesellschaft, die ebenso zerstört erscheint wie die Umwelt, und von orientierungslosen Menschen, die sich in der bizarren ukrainischen Wirklichkeit zurechtzufinden versuchen, im Kampf mit dem alltäglichen Chaos.
In seinem jüngsten Roman „Internat“macht Zhadan erstmals den Beginn des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine im Jänner 2015 zu seinem Thema. Hintergrund stellt die heiße Phase der Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Separatisten dar, als sich die Frontlinien zwischen pro- und antirussischen Milizen, regulären Soldaten und irregulären Kämpfern ohne Hoheitszeichen ständig verschoben, als Städte eingeschlossen, dann wieder befreit und abermals eingeschlossen wurden, während die ratlose und erschöpfte Zivilbevölkerung zwischen den Fronten herumirrte, nur darauf bedacht, den Kampflinien und Checkpoints auszuweichen und von Tag zu Tag zu überleben.
Zhadan erzählt diese Chaos-Tage strikt aus der Perspektive der leidenden Zivilisten. Sein Protagonist Pascha ist ein prototypischer „Homo post-sovieticus“, ein Zivilist der nach-sowjetischen Ära – passiv, pessimistisch, politisch gleichgültig. Pascha ist ein Lehrer Mitte dreißig in einer Siedlung nahe der ukrainisch-russischen Grenze. Sich aus allem herauszuhalten ist seine Überlebensstrategie. Er ignoriert die täglichen Schreckensnachrichten in den Medien. Der Konflikt geht ihn nichts an, meint er: Die Kämpfe sind ja nur als Explosionen und Brände am Horizont und als ferner Lärm von Mörsergranaten über der Nachbarstadt wahrnehmbar. Dort ziehen die Regierungstruppen gerade ab, während die Separatisten und ihre russischen Helfer – hier nur „Die Neuen“genannt – den Belagerungsring um die Stadt zu schließen beginnen.
Was Pascha nicht wahrhaben will: Er unterrichtet Ukrainisch in diesem überwiegend russischsprachigen Teil des Landes. Sein Unterrichtsfach gilt bereits als politisches Bekenntnis. Tatsächlich fungieren Sprache und Akzent im Roman als wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur raschen Etikettierung und Sortierung der Menschen. Ob einer Ukrainisch oder Russisch oder ein Gemisch aus beidem spricht (und mit welchem Akzent) – das stempelt ihn ab.
Die Handlung des Romans konzentriert sich auf drei bitterkalte, finstere Jännertage, in denen Pascha nicht länger ausblenden kann, dass er sich bereits mitten im Krieg befindet. „Fahr und hol ihn“, befiehlt ihm eingangs sein alter Vater. Pascha soll seinen 13-jährigen Neffen nach Hause holen, der in einem Internat in der umkämpften Nachbarstadt untergebracht ist, ehe diese von den „Neuen“ganz eingeschlossen wird.
Pascha zieht los – zu einer Irrfahrt per Bus, per Taxi, dessen Fahrer ein paar Schleichwege zur Umgehung von Checkpoints und neuen Frontlinien kennt, und schließlich zu Fuß. Überall Truppenbewegungen, Kriegsgerät rollt in langen Kolonnen auf den Straßen, doch die Kämpfer bleiben gesichtslos, wer Freund oder Feind ist, lässt sich nicht ausmachen. Die Bedrohung ist greifbar, die Angst der Menschen real. Verstört hocken sie in den Kellern ihrer halb zerbombten Wohnhäuser, ohne Strom und Wasser, und lauschen auf die Einschläge.
Pascha schlägt sich durch und findet im geplünderten und halb zerstörten Internat der Nachbarstadt tatsächlich seinen Neffen, einen zornigen, rebellischen Jungen. Der Heimweg der beiden wird zur Höllenreise, zur Odyssee durch eine Endzeit-Welt. Im eisigen Schneeregen irren der Mann und der Junge durch eine apokalyptische zerstörte Landschaft im fahlen Winterlicht. In den dichten milchigen Nebel, der über der Stadt lastet, mischen sich Schwaden schwarzen Qualms, der harschige Schnee unter den Füßen verwandelt sich in schmatzenden, schwarzen Schlamm.
„Internat“ist also ein politischer Roman und eine Road Novel, außerdem ein bedrückend aktueller und sprachmächtiger Kriegsroman sowie ein Bildungs- und Entwicklungsroman. Wer hier etwas lernt, ist nicht der Neffe, sondern der Onkel. Während der Heimreise durch eine zerfallende Gesellschaft und ein ruiniertes Land ändert sich Pascha. Er entwickelt Mut, Kühnheit und Schläue. Er beginnt Verantwortung zu übernehmen – für sich, für den Buben, für Fremde, die ihm unterwegs begegnen. Er erwirbt sich den Respekt seines Neffen – und er erfährt seinerseits auch Beistand und Hilfe durch Fremde, sodass die Heimreise gelingt, und „zu Hause riecht es nach frischen Bettlaken“. Der leichte Kitsch dieses Romanschlusses ist gleichwohl verzeihlich bei einem der wichtigsten und bedrängendsten Romane dieses Jahres.