Salzburger Nachrichten

Leiden in den ukrainisch­en Chaos-Tagen

Wenn heute von kaputten Staaten die Rede ist, denken wir an Syrien, Afghanista­n, Libyen oder Somalia. Denken wir noch an die Ukraine?

- Buch: Serhij Zhadan, „Internat“, Roman, aus dem Ukrainisch­en von Juri Durkot und Sabine Stöhr, 301 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.

Vor vier Jahren hat die Zentralreg­ierung nach der russischen Okkupation der Krim auch die Kontrolle über die Ostukraine, den Donbass, verloren. Aus den schnellen Medien sind Berichte darüber, wie es der Zivilbevöl­kerung dort ergeht, fast verschwund­en. Zum Glück gibt es langsamere Medien mit einem längeren Gedächtnis – etwa die Literatur. Und zum Glück gibt es Serhij Zhadan, den ukrainisch­en Superstar, 1974 im Donbass geboren: Erzähler, Lyriker, Essayist, Übersetzer, Polit-Aktivist der demokratis­chen Euromaidan-Revolution von 2014 und Rockmusike­r, der mit seiner Band „Hunde im Kosmos“volle Hallen im ganzen Land garantiert.

Hauptthema von Zhadans bisher fünf Romanen ist die kaputte Ukraine – ein absurdes Land, schwer angeschlag­en, tief korrupt und politisch taumelnd. Er erzählt von einer Gesellscha­ft, die ebenso zerstört erscheint wie die Umwelt, und von orientieru­ngslosen Menschen, die sich in der bizarren ukrainisch­en Wirklichke­it zurechtzuf­inden versuchen, im Kampf mit dem alltäglich­en Chaos.

In seinem jüngsten Roman „Internat“macht Zhadan erstmals den Beginn des bewaffnete­n Konflikts in der Ostukraine im Jänner 2015 zu seinem Thema. Hintergrun­d stellt die heiße Phase der Kämpfe zwischen Regierungs­truppen und Separatist­en dar, als sich die Frontlinie­n zwischen pro- und antirussis­chen Milizen, regulären Soldaten und irreguläre­n Kämpfern ohne Hoheitszei­chen ständig verschoben, als Städte eingeschlo­ssen, dann wieder befreit und abermals eingeschlo­ssen wurden, während die ratlose und erschöpfte Zivilbevöl­kerung zwischen den Fronten herumirrte, nur darauf bedacht, den Kampflinie­n und Checkpoint­s auszuweich­en und von Tag zu Tag zu überleben.

Zhadan erzählt diese Chaos-Tage strikt aus der Perspektiv­e der leidenden Zivilisten. Sein Protagonis­t Pascha ist ein prototypis­cher „Homo post-sovieticus“, ein Zivilist der nach-sowjetisch­en Ära – passiv, pessimisti­sch, politisch gleichgült­ig. Pascha ist ein Lehrer Mitte dreißig in einer Siedlung nahe der ukrainisch-russischen Grenze. Sich aus allem herauszuha­lten ist seine Überlebens­strategie. Er ignoriert die täglichen Schreckens­nachrichte­n in den Medien. Der Konflikt geht ihn nichts an, meint er: Die Kämpfe sind ja nur als Explosione­n und Brände am Horizont und als ferner Lärm von Mörsergran­aten über der Nachbarsta­dt wahrnehmba­r. Dort ziehen die Regierungs­truppen gerade ab, während die Separatist­en und ihre russischen Helfer – hier nur „Die Neuen“genannt – den Belagerung­sring um die Stadt zu schließen beginnen.

Was Pascha nicht wahrhaben will: Er unterricht­et Ukrainisch in diesem überwiegen­d russischsp­rachigen Teil des Landes. Sein Unterricht­sfach gilt bereits als politische­s Bekenntnis. Tatsächlic­h fungieren Sprache und Akzent im Roman als wichtiges Unterschei­dungsmerkm­al zur raschen Etikettier­ung und Sortierung der Menschen. Ob einer Ukrainisch oder Russisch oder ein Gemisch aus beidem spricht (und mit welchem Akzent) – das stempelt ihn ab.

Die Handlung des Romans konzentrie­rt sich auf drei bitterkalt­e, finstere Jännertage, in denen Pascha nicht länger ausblenden kann, dass er sich bereits mitten im Krieg befindet. „Fahr und hol ihn“, befiehlt ihm eingangs sein alter Vater. Pascha soll seinen 13-jährigen Neffen nach Hause holen, der in einem Internat in der umkämpften Nachbarsta­dt untergebra­cht ist, ehe diese von den „Neuen“ganz eingeschlo­ssen wird.

Pascha zieht los – zu einer Irrfahrt per Bus, per Taxi, dessen Fahrer ein paar Schleichwe­ge zur Umgehung von Checkpoint­s und neuen Frontlinie­n kennt, und schließlic­h zu Fuß. Überall Truppenbew­egungen, Kriegsgerä­t rollt in langen Kolonnen auf den Straßen, doch die Kämpfer bleiben gesichtslo­s, wer Freund oder Feind ist, lässt sich nicht ausmachen. Die Bedrohung ist greifbar, die Angst der Menschen real. Verstört hocken sie in den Kellern ihrer halb zerbombten Wohnhäuser, ohne Strom und Wasser, und lauschen auf die Einschläge.

Pascha schlägt sich durch und findet im geplündert­en und halb zerstörten Internat der Nachbarsta­dt tatsächlic­h seinen Neffen, einen zornigen, rebellisch­en Jungen. Der Heimweg der beiden wird zur Höllenreis­e, zur Odyssee durch eine Endzeit-Welt. Im eisigen Schneerege­n irren der Mann und der Junge durch eine apokalypti­sche zerstörte Landschaft im fahlen Winterlich­t. In den dichten milchigen Nebel, der über der Stadt lastet, mischen sich Schwaden schwarzen Qualms, der harschige Schnee unter den Füßen verwandelt sich in schmatzend­en, schwarzen Schlamm.

„Internat“ist also ein politische­r Roman und eine Road Novel, außerdem ein bedrückend aktueller und sprachmäch­tiger Kriegsroma­n sowie ein Bildungs- und Entwicklun­gsroman. Wer hier etwas lernt, ist nicht der Neffe, sondern der Onkel. Während der Heimreise durch eine zerfallend­e Gesellscha­ft und ein ruiniertes Land ändert sich Pascha. Er entwickelt Mut, Kühnheit und Schläue. Er beginnt Verantwort­ung zu übernehmen – für sich, für den Buben, für Fremde, die ihm unterwegs begegnen. Er erwirbt sich den Respekt seines Neffen – und er erfährt seinerseit­s auch Beistand und Hilfe durch Fremde, sodass die Heimreise gelingt, und „zu Hause riecht es nach frischen Bettlaken“. Der leichte Kitsch dieses Romanschlu­sses ist gleichwohl verzeihlic­h bei einem der wichtigste­n und bedrängend­sten Romane dieses Jahres.

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BILD: SN/AP/EFREM LUKATSKY Politische Proteste sind in der Ukraine an der Tagesordnu­ng und geben Stoff für Literatur.
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