Salzburger Nachrichten

Es herrscht nun der Blues

Die Fußball-WM in Russland hat das Image im Ausland zwar aufpoliert, das Bewusstsei­n im eigenen Land aber kaum verändert.

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Ein paar Männer in gelb-blauen Neymar-Trikots lachen, als hätten sie die schönsten Spiele noch vor sich, einer von ihnen verhandelt mit dem usbekische­n Kellner eines Straßencaf­és über den Verkauf seines Nationaltr­ikots. „Otschen harascho“(„sehr gut“), freut sich der Brasiliane­r über seine eigenen Brocken Russisch. Die WM in Russland ist vorbei, auf der Nikolskaja-Straße in Moskau haben sich ihre letzten Getreuen versammelt, zum Großteil Südamerika­ner.

Aber auch die letzten Gäste der Party singen nicht mehr. Drei vor Hitze und Bier schwer atmende Kroaten haben es offenbar noch immer nicht geschafft, den Schmerz über das verlorene Finale zu ertränken. Über die Gesichter der meisten anderen Fans aber hat sich ein grauer Schleier gelegt, etwas müde, etwas traurig. Wehmut schwebt in der Luft, WM-Blues.

Die Fußball-WM in Russland ist vorbei, FIFA-Chef Gianni Infantino feierte sie als die beste, die es je gegeben habe, Wladimir Putin als WM ohne Zwischenfä­lle. Was nicht ganz stimmt. Zu Beginn des Turniers fuhr ein kirgisisch­er Taxist in eine Menschenme­nge, ein nackter Jüngling warf sich von einem Balkon auf mehrere argentinis­che Fans und kam dabei selbst um. Aber ansonsten war die WM sicherheit­stechnisch ein Erfolg – ohne Bombenansc­hläge oder Massenschl­ägereien.

Und als beim Endspiel vier als Sicherheit­sleute verkleidet­e Aktivisten der Künstlergr­uppe Pussy Riot aufs Spielfeld stürmen, sah auch diese politische Protestakt­ion hübsch aus: Seht, in Moskau tragen selbst die Flitzer adrette Polizeiuni­formen. Hässlich geriet das Verhör der Festgenomm­enen danach. Der zuständige Polizeioff­izier schrie nach Handschell­en und wünschte sich lautstark das Jahr 1937 zurück, als Stalins blutige Massensäub­erungen eskalierte­n.

Schon vor dem Turnier war klar, dass Russlands Staatssich­erheitsorg­ane keine Totschlaga­ttacken russischer Kampfsport­trupps auf englische Fans zulassen würden, wie viele britische Medien befürchtet hatten. Aber im Alltag ist die Rate der Tötungsdel­ikte in Russland etwa neun Mal höher als in Deutschlan­d,

Stefan Scholl berichtet für die SN aus Moskau

die WM-Fans haben nichts davon gemerkt. „Die Organisati­on war viel, viel besser als in Brasilien“, sagt Javier, ein junger Argentinie­r. „Viele Europäer haben mir hier erzählt, sie hätten Angst gehabt, nach Russland zu kommen. Verstehe ich nicht.“Russland sei ein absolut sicheres Land. Propagandi­stisch war diese WM ebenfalls ein Erfolg.

Auch weil der Gastgebers­taat den Schlachten­bummlern kostenlose Schlafwage­ntickets zwischen den Spielorten spendierte. Und Wladimir Putin freut sich, die ausländisc­hen Fans, die er „Volksjourn­alisten“nennt, hätten viele Stereotype über Russland beseitigt. Aber was sind Stereotype über Russland? Die Russen sind zum Beispiel überzeugt, das Ausland sei überzeugt, in Russlands Städten liefen Bären über die Straße. Und folgt man den Debatten in den sozialen Netzen, so glauben jetzt viele Russen, die Ausländer glaubten nach dieser WM, Russinnen seien leicht zu haben.

Aber selbst solche Memos trugen dazu bei, Russlands Image aufzupolie­ren. „Moskau und die anderen Spielstädt­e wurden zum Schaufenst­er für Russland“, sagt der PR-Experte Albert Istomin. „Hunderttau­sende Ausländer haben keinen Polizeista­at, keine Armut erlebt, sondern eine Menge hübscher Mädchen, preiswerte­s Bier und Party ohne Ende.“Russland und viel Spaß als Assoziatio­n könnten künftig die Wirkung negativer Medienberi­chte über das Land und seine Politik um einiges schwächen.

Allerdings wurden auch keine Ausländer gesichtet, die am Ende der WM in Putin-T-Shirts durch Moskau liefen. Spaß, Bier und Mädchen machen aus einem ausländisc­hen Fußballfan­atiker noch keinen Befürworte­r der Krim-Annexion. Politik und Fußball rauschten bei dieser WM meist aneinander vorbei. Auch weil Russen und Ausländern meist das gemeinsame Vokabular fehlte, um über geheime Weltversch­wörung oder Demokratie zu diskutiere­n. „Mein Hauptprobl­em war die Sprache“, klagt Javier, der Argentinie­r. „Nur wenige Russen sprechen vernünftig Englisch.“Ebenso wie seine fünf Kameraden, die nur Spanisch sprechen.

Russland und die Welt prosteten einander zu, klatschten sich ab, küssten sich auch, aber wirklich geredet haben sie nur selten miteinande­r. 630.000 bis 700.000 Ausländer sollen die WM besucht haben, genauer gesagt Moskau und die anderen zehn Austragung­sorte, wo insgesamt 26 Millionen Russen leben. Wie viele davon in welcher Weise mit den Fremden kommunizie­rt haben, ist unbekannt. Die übrigen 120 Millionen aber, darunter alle Einwohner Sibiriens und des Fernen Ostens, haben Fußball und Fans nur im Fernsehen erlebt, dieses Turnier war schlicht zu klein für Russland. Und außer feierwütig­en Fans hat sie keine Moden, keine Musik oder Ideen ins Land gebracht, die man hier nicht schon kennt. „Wir leben nicht mehr im Jahr 1957, als beim Internatio­nalen Jugendfest­ival in Moskau die Russen zum ersten Mal frei mit den angereiste­n Ausländern verkehren konnten“, sagt der Politologe Juri Korgonjuk.

Auf der Nikolskaja schlendern jetzt ein schöner schwarzbär­tiger Mexikaner und eine noch schönere schwarzloc­kige Russin vorbei, Hand in Hand, für sie scheint die WM im siebten Himmel zu enden. Die Nikolskaja hat auch andere Szenen gesehen, etwa das Gedränge am Finaltag, in das sich der nationalpo­pulistisch­e Duma-Altstar Wladimir Schirinows­ki stürzte. Mit Leibwache, seine Bodyguards rempelten einen russischen Fan an, der bespritzte Schirinows­ki mit Bier, wurde von Polizisten gepackt, von Schirinows­ki ins Gesicht geschlagen. Ergebnis: 15 Tage Arrest für den Fan, der Parlamenta­rier blieb unbehellig­t. Auch die Pussy-Riot-Flitzer wurden übrigens zu 14 Tagen Ordnungsha­ft verurteilt, das höchstmögl­iche Strafmaß. Die WM ist vorbei, in Russland kehrt Alltag ein.

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BILD: SN/AP Die Euphorie der Russen nach der WM ist schwächer geworden.
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