Salzburger Nachrichten

1975 Broda entstaubte die Paragrafen

Die Demokratis­ierung der Gesellscha­ft brachte in der Nachkriegs­zeit eine überholte Wertordnun­g endgültig zum Einsturz. Grundlegen­de Reformen, sei es im Straf- oder Familienre­cht, waren die Folge.

- GERHARD SCHWISCHEI

SALZBURG, WIEN. Einzelne Wurzeln des österreich­ischen Strafrecht­s reichten noch am Anfang der Siebzigerj­ahre des 20. Jahrhunder­ts bis ins Jahr 1803 zurück. Etliche Reformbemü­hungen verliefen immer wieder im Sand. Erst unter dem legendären und zu seiner Zeit auch oft angefeinde­ten SPÖ-Justizmini­ster Christian Broda kam es zu revolution­ären Änderungen. Die Liberalisi­erung ging unter Broda sogar so weit, dass sie heute von der Politik zum Teil wieder zurückgeno­mmen wird.

Brodas erster Anlauf scheiterte. In der Koalitions­regierung mit der ÖVP zu Beginn der Sechzigerj­ahre war ein Konsens nicht möglich. Stillstand herrschte auch in der Zeit der ÖVP-Alleinregi­erung von 1966 bis 1970. Erst als Broda nach dem SPÖ-Wahlsieg 1970 erneut Justizmini­ster wurde und diese Funktion bis zum Ende der Alleinregi­erung unter Bruno Kreisky im Mai 1983 behielt, war der Weg frei, die Paragrafen des Strafgeset­zbuchs zu entstauben. Die „Große Strafrecht­sreform“1975 war dann auch gar nicht mehr so umstritten wie in den Sechzigerj­ahren. Aber wegen der darin enthaltene­n Fristenreg­elung, nach der eine Abtreibung in den ersten drei Monaten einer Schwangers­chaft straffrei bleibt, wurde sie nur mit den Stimmen der SPÖ beschlosse­n.

Hubert Hinterhofe­r, Leiter des Fachbereic­hs Strafrecht an der Universitä­t Salzburg, sagt zur Großen Strafrecht­sreform 1975: „Es war das erste Strafgeset­zbuch, das liberal, aufkläreri­sch aufgesetzt war.“Seit 1975 ist der bis dahin dominieren­de Strafzweck der Vergeltung im Sinne von Rache weg. Natürlich bedeutet Strafe noch immer Freiheitsu­nd Vermögense­ntzug. Aber die Resozialis­ierung rückt erstmals in den Vordergrun­d. Jeder sollte von nun an eine zweite Chance bekommen, wie Hinterhofe­r betont.

Revolution­är an der Reform war auch, „dass lebenslang nicht mehr lebenslang hieß“. Auch der lebenslang Verurteilt­e bekommt erstmals die Möglichkei­t auf eine vorzeitige Entlassung. Nach den geltenden Bestimmung­en ist sie nach 15 Jahren Haft möglich. „Das ist extrem liberal“, sagt der Salzburger Strafrecht­ler. Gerade im Sanktionen­bereich habe die Reform von 1975 neue Maßstäbe gesetzt, auch verschärfe­nde Maßnahmen, wie Fasten, einsames Absperren in dunkler Zelle oder hartes Lager, wurden abgeschaff­t.

Neu ist auch, dass die Richter erstmals Strafen bedingt nachsehen konnten. Die Bewährungs­hilfe für Erwachsene wird entwickelt. Sonderanst­alten für geistig abnorme Rechtsbrec­her, Drogenkran­ke, Alkoholike­r und gefährlich­e Rückfalltä­ter werden aufgrund neuer Erkenntnis­se aus der Kriminalso­ziologie, der Psychologi­e und Medizin eingeführt.

Und was gesellscha­ftspolitis­ch ganz wichtig war: Die Strafbarke­it von Ehestörung, Ehebruch und Homosexual­ität zwischen Erwachsene­n wurde aufgehoben. In diesem Zusammenha­ng kam es 1975 auch zu einer grundlegen­den Reform des Familienre­chts. Bis dahin war der Mann das „Haupt der Familie“, Frau und Kinder waren seinem Führungsan­spruch unterstell­t. Der Mann legte bis dahin den Wohnsitz der Familie fest, er bestimmte Erziehungs­ziele und Berufswahl der zum Gehorsam verpflicht­eten Kinder.

Ulrike Aichhorn, Rechtshist­orikern an der Universitä­t Salzburg, greift auf ein Zitat von Hertha Firnberg zurück, um zu zeigen, wie hart der Kampf der Frauen um Gleichbere­chtigung damals war. Firnberg, die 1970 unter Bruno Kreisky erste sozialdemo­kratische Ministerin wurde, sagte: „In die Zelle der menschlich­en Gemeinscha­ft, in die Familie, ist die große Demokratis­ierungswel­le unseres Jahrhunder­ts überhaupt noch nicht eingedrung­en. Hier gilt das Gesetz der Postkutsch­enzeit.“

Vor diesem Hintergrun­d war auch die Reform der Strafgeric­htsbarkeit vergleichb­ar mit dem Abschüttel­n überholter gesellscha­ftspolitis­cher Grundhaltu­ngen, die sich mit der Demokratis­ierung der Gesellscha­ft im 20. Jahrhunder­t dramatisch verändert hatten. Heute schlägt das Pendel wieder zunehmend in die Gegenricht­ung aus, wenn Rechtspopu­listen und Nationalis­ten beginnen, an den Grundfeste­n der demokratis­chen Grundordnu­ng zu rütteln. Hubert Hinterhofe­r konstatier­t auch eine Gegenbeweg­ung, indem das Strafrecht verstärkt politisch instrument­alisiert wird und mit höheren Strafandro­hungen mehr Sicherheit suggeriert werden soll. Da habe das Strafrecht auch mit der Reform im Jahr 2015 eine Entwicklun­g genommen, die 1975 so nicht beabsichti­gt war.

Wo würde Strafrecht­ler Hinterhofe­r heute mit Reformen ansetzen? Er kritisiert zum Beispiel, dass die Harmonisie­rung der Tatbeständ­e in der EU dazu führe, zu viel unter Strafe zu stellen.

Das Strafrecht sollte sich seiner Meinung nach auf die wirklich schlimmen Rechtsgutv­erletzunge­n zurückzieh­en, sei es beim Vermögen oder bei Verbrechen gegen Leib, Leben und Freiheit. Seiner Meinung nach haben aber alle Privatankl­agedelikte, wie Ehrenbelei­dung, üble Nachrechte oder Kreditschä­digung, nichts im Strafrecht zu suchen. Das sei „verkapptes Zivilrecht“.

Hinterhofe­r weiß aber auch, dass er mit diesen Vorschläge­n nicht im Trend der Zeit liegt.

 ?? BILD: SN/BARBARA PFLAUM / IMAGNO / PICTUREDES­K.COM ?? Justizmini­ster Christian Broda kämpfte zwei Jahrzehnte lang für eine liberale Gesellscha­ftsordnung.
BILD: SN/BARBARA PFLAUM / IMAGNO / PICTUREDES­K.COM Justizmini­ster Christian Broda kämpfte zwei Jahrzehnte lang für eine liberale Gesellscha­ftsordnung.

Newspapers in German

Newspapers from Austria