Wo ist die ÖVP?
Sie ist in der Regierung. Sie stellt den Kanzler. Endlich, werden viele sagen, die der Volkspartei auch in schlechteren Zeiten treu waren. Verständlich. Wer ist nicht lieber bei den Siegern? Aber ich hoffe doch, dass es vielen um mehr geht. Jede Partei hat ihre Wertvorstellungen, ihre – nennen wir es ruhig so – ideologischen Grundpositionen. Und gerade deswegen stelle ich die Frage: Wo ist die ÖVP? Wo sind ihre Politiker und Funktionärinnen, wo sind die, die diese Partei gewählt haben?
Können sie tatsächlich tatenlos zusehen, wenn die Sozialpartnerschaft zertrümmert wird, nur weil es aufs Erste für die Industriellenvereinigung bequem erscheint? Was ist mit den christlich-sozialen Arbeitnehmern, die sich seit Leopold Kunschak für ein gerechtes Miteinander eingesetzt haben? Wo sind die ÖVP-Frauen, wenn der Innenminister Projekte im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen einspart und dafür teure Polizeipferde anschafft? Wo sind all die Christen, die in der ÖVP ihre Heimat sehen? Wie geht ihr Glaube zusammen mit der Hetze gegen solche, die Schwächeren helfen wollen? Die davon ausgehen, dass Nächstenliebe keine Frage der politischen Grenzen ist? Wo sind die aufgeschlossenen Europäer der Volkspartei? Die Jungen, die international lernen und vernetzt arbeiten? Die alten Visionäre? Alois Mock, wie er vor Freude nach unserem EUBeitritt Brigitte Ederer abgebusselt hat. Das Bild wird in Erinnerung bleiben. Heute kann ein FPÖ-Funktionär den Kommissionspräsidenten und mit ihm die Europäische Union als „Lachnummer“beschimpfen. Mit Ausnahme der EU-Politiker Othmar Karas und Johannes Hahn hat keiner einen Mucks gemacht. Der Kanzler, sonst so erpicht auf seinen Führungsanspruch, lässt zwei Tage danach erklären, man sei jetzt in den USA und könne wegen der „Zeitverschiebung“nicht Stellung nehmen. Ich teile mit der bisherigen ÖVP viele christlich-soziale Positionen. Die meisten gesellschaftspolitischen Vorstellungen sind mir zu wertkonservativ. Und radikale Marktwirtschaft halte ich für untauglich als Zukunftskonzept. Aber wir brauchen unterschiedliche Meinungen. Und Dialog ist unverzichtbar für eine Demokratie. Das bedeutet aber auch, Position zu beziehen.
Andreas Khol, Urgestein der ÖVP, hat vor vielen Jahren den Begriff vom „Verfassungsbogen“geprägt. Wer auf dem Grundkonsens von Demokratie und Verfassung, Freiheitsund Menschenrechten agiere, mit dem könne man zusammenarbeiten. Das schloss er damals für die Haider-FPÖ aus. Jetzt sitzt die ÖVP mit einer radikaleren Partei in der Regierung, einer, die offen unsere Grundsätze angreift: Pressefreiheit, Menschenrechtskonvention, Schutz vor Diskriminierung, Gewaltentrennung. Es wird nicht mehr darüber gesprochen.
Ja, unsere Opposition ist momentan schwach. Die Grünen ergehen sich in Selbstmitleid und Nabelschau. Die Pilzfreunde wissen nicht, welche Schwammerl sie sich eingehandelt haben. Die SPÖ taumelt zwischen redlichem Bemühen und den Verführungen des Populismus, die Neos wissen nicht, dass gesellschaftlicher Liberalismus und Wirtschaftsliberalismus einander widersprechen. Unser Bundespräsident nutzt seine Position in dieser aufgeregten Zeit mit erfreulicher Weitsicht. Aber: Es ist die ÖVP, die in der Regierung sitzt. Und es sind ihre Funktionäre, Wählerinnen, Politiker, die wir zu allererst fragen sollten: Wollt ihr wirklich, was da momentan passiert? Eva Rossmann