Wer sind wir geworden?
Sprache entgleist. Der Firnis war dünn.
„Was ich beobachte, ist, dass über Migranten und Geflüchtete zunehmend wie über Sachverhalte gesprochen wird. Mitmenschlichkeit, Empathie, Zugewandtheit – das spielt überhaupt keine Rolle mehr im politischen Diskurs.
Wenn Politiker so sprechen, hat das natürlich einen Effekt: Diese Art zu sprechen geht in den allgemeinen Sprachgebrauch über.
Auf der anderen Seite ist die Gesellschaft zur Stelle: Die merkt, dass da etwas gewaltig verrutscht, und bildet einen Gegendiskurs.
Das Schlimmste wäre ein Gewöhnungseffekt und dass uns gar nicht mehr auffällt, was da ethisch, moralisch los ist – wenn der italienische Innenminister Matteo Salvini Migranten „Menschenfleisch“nennt zum Beispiel.
Wie lässt sich erklären, dass eine derart menschenfeindliche Äußerung Zustimmung findet? Wir müssen uns klar machen: Diejenigen, die sich darüber empören, sind nach wie vor in der Mehrheit. Trotzdem stimmen viele zu. Diejenigen, die dem Rechtspopulismus zugeneigt sind, sind oft Menschen, die sich selbst als Opfer sehen. Wenn dann anderen Menschen, von denen sie glauben, dass sie hierarchisch unter ihnen stehen, mehr Aufmerksamkeit zukommt als ihnen selbst, entsteht dieses Bravo-Rufen für Leute wie Salvini.
Natürlich spielen auch die Medien eine große Rolle. Sie reproduzieren die Sprache, indem sie sie zitieren. Und mit jedem Zitat, jeder Wiedergabe solcher menschenfeindlicher Ausdrücke ist ein Schritt getan zur Verbreitung der Bereitschaft, das auch zu tun.
Ich habe das Gefühl, da ist ein Damm gebrochen. Und der Firnis war sehr dünn. Auferlegte Tabus, gesetzte Regeln – all das gilt im Moment nicht.
Wie lässt sich gegensteuern? Es ist wichtig, dass Menschen, die damit nicht einverstanden sind, mit Sprache dagegenhalten. Dass sie nicht müde werden, ein Korrektiv zu bilden. Die Grundvoraussetzung dieses Appells ist: Mit Sprache schaffen wir Wirklichkeit. Wir schaffen Wirklichkeit mit nichts anderem als mit Sprache. Man kann mit ihr sehr viel Segensreiches tun, aber auch viel Schlimmes anstellen. Sie wird auch oft als Instrument eingesetzt. Wenn wir Metaphern hören wie Flüchtlingsflut – es war auch von Tsunami die Rede – entstehen Emotionen. Und der Eindruck: Ich bin einer riesigen Masse hilflos ausgeliefert und die bedroht mich existenziell. So werden Ängste geschürt.“